Sartre und Heidegger
 
 
  Dieser Aufsatz war meine erste Veröffentlichung. Er

Mehr über Heidegger findet sich in der Rezension von Safranskis Heidegger-Biographie. Außerdem geht es in dem Roman "Mein Hund, meine Sau, mein Leben" von Arnold Stadler um Martin Heidegger - am Rande jedenfalls.

 
 
 
  I.
Paul Celan: Todtnauberg

    Arnika, Augentrost, der
    Trunk aus dem Brunnen mit dem
    Sternwürfel drauf

    in der
    Hütte

    die in das Buch
    - wessen Namen nahms auf
    vor dem meinen? -,
    die in dies Buch
    geschriebene Zeile von
    einer Hoffnung, heute,
    auf eines Denkenden
    kommendes
    Wort
    im Herzen,

    Waldwasen, uneingeebnet
    Orchis und Orchis, einzeln,

    Krudes, später, im Fahren
    deutlich,

    der uns fährt, der Mensch
    der's mit anhört

    die halb -
    beschnittenen Knüppel-
    pfade im Hochmoor,

    Feuchtes,
    viel.

II.
"Das Wesen der Beziehungen zwischen Bewußtseinsindividuen ist nicht das Mitsein, sondern der Konflikt."
(1), so lautet der Kernpunkt der Sartreschen Kritik in "Das Sein und das Nichts" an Heideggers Auffassung vom menschlichen Zusammenleben.

Absicht dieser vorliegenden Arbeit ist es, zunächst die Heideggersche Theorie des Mitseins kurz zu analysieren, um danach die Unterschiede in den Theorien des Mit-Anderen-Seins bei Heidegger und Sartre zu verdeutlichen.

III.
Bildlich ließe sich der Unterschied zwischen Konflikt und Mitsein folgendermaßen darstellen:

Im Konflikt stehen zwei Individuen einander gegenüber, die, den je Anderen erblickend, versuchen, diesen in eine vergegenständlichende Festlegung zu bannen. Dabei erkennen sie sich selbst im Blick des Anderen. Allein dies Sich-gegenüber-stehen eröffnet die Möglichkeit, aufeinander zuzugehen und mit dem anderen Kontakt aufzunehmen (2).

IV.
Die menschliche Realität, das Seiende 'Mensch', bezeichnet Heidegger mit dem Begriff Dasein. Dieses zeichnet sich dadurch aus, daß es ihm in seinem Sein um das Sein geht, welches sein eigenes ist. Ergriffen wird dieses Sein als In-der-Welt-sein.
(3).

Weil ein Dasein jedoch nicht allein existiert, gehört zu seiner wesenhaften Struktur, gleichursprünglich wie das In-der-Welt-sein, das Mitsein, das den Raum für die Begegnung mit anderen darstellt. Der konkrete Andere begegnet als Mitdasein. Weil aber das Mitsein zur Wesensstruktur des Daseins gehört, ist der Andere in seinem Mitdasein vorgängig, d.h. ontologisch, schon erschlossen und verstanden.

Die zum Mitsein gehörige Erschlossenheit des Mitdaseins Anderer besagt: im Seinsverständnis des Daseins liegt schon, weil sein Sein Mitsein ist, das Verständnis Anderer. Dieses Verstehen ist, wie Verstehen überhaupt, nicht eine aus Erkennen erwachsene Erkenntnis, sondern eine usprüngliche existenziale Seinsart, die Erkennen und Kenntnis allererst möglich macht. (4)

Dieses ontologische Mitsein ermöglicht zwar das vorgängige Verständnis des Anderen, kann aber nicht den Weg zum einzelnen konkreten Menschen weisen. Denn er tritt nicht als Anderer, als Nicht-Ich, in die von mir konstituierte und entworfene Welt ein, sondern er ist in der ontologischen Welt je 'auch' und 'mit' da.

Dieses Auch-da-sein mit ihnen [den Anderen] hat nicht den ontologischen Charakter eines 'Mit'-Vorhandenseins innerhalb einer Welt. Das 'Mit' ist ein daseinsmäßiges, das 'Auch' meint die Gleichheit des Seins als umsichtig-besorgendes In-der-Welt-sein. [...] Auf dem Grunde des mithaften In-der-Welt-seins ist die Welt je schon immer die, die ich mit den Anderen teile. Die Welt des Daseins ist Mitwelt. (5)

Aus der "Gleichheit des Seins als umsichtig-besorgendes In-der-Welt-sein" folgert Heidegger, daß die Anderen mitnichten "der ganze Rest der Übrigen außer mir" sind, sondern "... die, von denen man selbst sich zumeist nicht unterscheidet, unter denen man auch ist." (6) Kein Wunder also, daß Sartre Heidegger attestiert, daß 'mit' nicht wechselseitigen Erkenntnisbezug bedeutet und den Kampf, der daraus resultiert, daß ein Anderer in meine Welt tritt, sondern vielmehr "... eine Art ontologischer Solidarität zum Zwecke der Ausbeutung dieser Welt..." (7)

V.
Wo liegt nun Heideggers Fehler?

Der Fehler liegt im falschen Ausgangspunkt: Durch die Ontologisierung der Begegnung mit Anderen und der Gleichsetzung des Ich mit den übrigen verliert Heidegger den konkreten Menschen aus dem Blick, besser gesagt: Er bekommt ihn gar nicht erst in denselben. Was bleibt, ist eben jenes diffuse Wir, das sich in der gemeinsamen Ausbeutung der Welt solidarisch einfindet; dieses 'Wir', die Solidargemeinschaft der Weltausbeuter, macht es sogar so stark, daß das Alleinsein nur noch als "defizienter Modus" des Mitseins erscheint.

Wo aber bleibt der einzelne Andere? Er fällt heraus. Heidegger kann ihm nicht begegnen. Er könnte es nur, wenn er sich als intentionales Bewußtsein, also als kartesianisches Cogito, verstünde, dem ein ihm fremdes In-der-Welt-sein begegnet. Dieses wiederum darf nicht ontologisch-vorgängig verstanden sein, sondern muß unmittelbar begegnen, seine Anwesenheit darf nicht vermittelt sein durch die entworfene Welt. Heidegger müßte, als einziges ihm zugängliches Ich, phänomenologisch beschreiben, wie er den Anderen als Nicht-Ich, als Weltjenseitigkeit, erfährt.

Denn der Andere ist überhaupt nur (nämlich als Anderer) für 'mich'. Wo 'ich' aber mit dem Anderen zu tun habe, da gibt es nicht 'zwei oder andere' Individuen..., sondern nur den Anderen und das, was er mir antut. (8)

VI.
Die Erfahrung des Anderen als Nicht-Ich, die offensichtlich grundlegend für die Begegnung mit dem konkreten Andere ist, verstellt sich Heidegger aus zwei Gründen: 1. wegen seiner Verteufelung des kartesianischen Cogito und 2. wegen der Auffassung, die Anderen seien 'mit' und 'auch' in der Welt da. So erscheinen ihm die Anderen nämlich als solche, die sich von einem selbst nicht unterscheiden, die in ihrer "Unterschiedlichkeit und Ausdrücklichkeit" verschwinden.

Man selbst gehört zu den Anderen... 'Die Anderen', die man so nennt, um die eigene wesenhafte Zugehörigkeit zu ihnen zu verdecken, sind die, die im alltäglichen Miteinander-sein zunächst und zumeist 'da sind'. Das Wer ist nicht dieser und nicht jener, nicht man selbst und nicht einige und nicht die Summe Aller. Das 'Wer' ist das Neutrum, das Man. (9)

Heidegger rückt also von Anfang an das Mitsein in die Nähe der Uneigentlichkeit, indem er es durch die Identifizierung seines Wer als Man der Alltäglichkeit unterordnet. Explizit wird die Tendenz im 2. Abschnitt von 'Sein und Zeit': Heidegger setzt Alltäglichkeit mit Uneigentlichkeit gleich, indem er zeigt, daß das alltägliche Ich-sagen, das sich von der besorgten "Welt" her versteht, motiviert ist:

... durch das Verfallen des Daseins, als welches es vor sich selbst flieht in das Man. Die 'natürliche' Ich-Rede vollzieht das Man-selbst. Im 'Ich' spricht sich das Selbst aus, das ich zunächst und zumeist nicht eigentlich bin. Für das Aufgehen in der alltäglichen Vielfältigkeit und dem Sich-jagen des Besorgten zeigt sich das Selbst des selbstvergessenen Ich-besorge als das ständig selbige, aber unbestimmt-leere Einfache. [...] Das Man-selbst sagt am häufigsten Ich-Ich, weil es im Grunde nicht eigentlich es selbst ist und dem eigentlichen Seinkönnen ausweicht. (10)

Nun gibt es also nur noch den uneigentlichen, alltäglich Besorgenden und den eigentlichen, entschlossen in den Tod Vorlaufenden. Allerdings versäumt Heidegger es mitzuteilen, wie der eigentlich Vorlaufende überhaupt existieren kann: Offensichtlich sind doch - auf Grund von Heideggers Absolutismus, der nur ein Entweder-oder, nicht aber wie Sartre auch in der Eigentlichkeit ein mauvaise foi zuläßt - dem Vorläufer solch uneigentlich-alltäglichen, zur Reproduktion von Lebensfunktionen allerdings unerläßlichen Handlungen wie Essen, Trinken, Schlafen etc. a priori versperrt.

VII.
In eins mit der Gleichsetzung von Uneigentlichkeit und Alltäglichkeit hängt Heidegger auch die Anderen ab: Weil der Tod als Nicht-mehr-sein-können die Möglichkeit ist, die das Dasein auf sein eigenes Seinkönnen verweist, ist diesem durch das unweigerliche Bevorstehen des Todes jeglicher Bezug zu Anderen verwehrt. Auf das Vorlaufen erweitert, bedeutet dies den wesenhaften Ausschluß der Anderen: "Das Dasein ist eigentlich selbst in der ursprünglichen Vereinzelung der verschwiegenen, sich Angst zumutenden Entschlossenheit."
(11)

VIII.
Sartre kommentiert Heideggers Denkmodell folgendermaßen:

Das empirische Bild, das die Heideggersche Auffassung am besten symbolisieren würde, ist nicht das des Kampfes, sondern das der Mannschaft. Die ursprüngliche Beziehung des Anderen zu meinem Bewußtsein ist nicht das Du und Ich, sondern das Wir, und das Heideggersche Mit-Sein ist nicht die klare und deutliche Position eines Individuums gegenüber einem anderen, ist nicht Erkenntnis, es ist dumpfe Existenz in Gemeinschaft, wie ein Mann sie in der Mannschaft führt, jene Existenz, die durch den Rhythmus der Riemen oder die rhythmischen Bewegungen des Steuermannes den Ruderern spürbar wird, und die durch das gemeinsam zu erreichende Ziel [...] ihnen kundgetan wird. Auf dem gemeinsamen Hintergrunde dieser Koexistenz hebt mich die plötzliche Entdeckung meines Seins-zum-Tode im Rahmen einer absoluten 'gemeinsamen Einsamkeit' heraus und erhebt zugleich die Anderen auf die Höhe dieser Einsamkeit. (12)

IX.
Mir scheint es sinnvoll, als Kommentar dazu eine Stelle aus dem Kriegsroman "In Stahlgewittern" von Heideggers Freund Ernst Jünger zu zitieren:

Als ich wieder im Graben stand, erschienen plötzlich meine Kameraden Voigt und Haverkamp, die offensichtlich gefeiert hatten und auf die seltsame Idee verfallen waren, aus dem gemütlichen Sumpflager heraus durch den stockfinsteren Wald in die vorderste Linie zu pilger um Patrouille zu gehen, wie sie sagten. Ich habe immer den Grundsatz gehabt, daß jeder seine Haut zu Markte tragen mag, wo es ihm paßt, und ließ sie daher aus dem Graben klettern, obwohl der Gegener noch immer aufgeregt war. (13)

X.
Hier zeigt sich also der tiefere Sinn des entschlossenen Vorlaufens: Die Gemeinschaft gleicht der Kameradschaft von Soldaten im Feld. Man bildet zwar eine eingeschworene Gemeinschaft, dennoch hat jeder die Freiheit, in seinen eigenen - sicheren - Tod vorzulaufen, ohne daß die Kameraden ihn zurückhalten.

Statt sich füreinander verantwortlich zu zeigen, ist jeder nur sich selbst der Nächste. Auf so einem Boden kann kein solidarisches Miteinander gedeihen.

XI.
Ganz anders nimmt sich dagegen Sartres Theorie des Miteinander-seins aus: Mit Blick auf seine Kritik an Heideggers Mitseins postuliert er vier Grundbedingungen, auf denen eine Theorie der Fremdexistenz beruhen muß:

Die wichtigste Forderung ist die nach der Notwendigkeit der Fremdexistenz; jede Vermutung über die Existenz Anderer ist laut Sartre sinnlos, wenn sie nicht ebenso sicher ist wie meine eigene. "Eine Theorie der Fremdexistenz muß mich also einfach in meinem Sein befragen und muß vor allem - weit davon entfernt, einen Beweis zu ersinnen - die Grundlage dieser Gewißheit explizit machen." (14)

Und ebenso, wie ich immer schon gewußt habe, daß ich als kartesianisches Cogito existiere, habe ich auch immer schon gewußt, daß der Andere existiert. Dieses vorontologische Verständnis der Anderen ist eine ganz klare Abgrenzung gegenüber der ontologischen Struktur des Mitseins bei Heidegger, es ermöglicht mir, "den Anderen" nicht außerhalb meiner in einer besorgten Welt, sondern ihn selbst in mir zu finden "... als den, der nicht ich ist." (15) Dies ist allein möglich auf der Ebene des vorontologischen Verständnisses. "Das Mitsein für sich allein wäre unmöglich ohne vorläufige Anerkennung dessen, was der Andere ist: Ich 'bin mit...', meinetwegen, aber mit wem?" (16)

Als dritte Bedingung postuliert er, daß der Andere dem Cogito nicht als Anderer-Objekt erscheinen darf, da er als solches nur wahrscheinlich, nicht aber notwendig wäre. Er konstituiert nicht a priori mein Sein, sondern mein Sein mit ihm ist eine konstitutive Struktur meines ontischen Konkret-seins.

Die letzte Bedingung schießlich lautet, daß das Verhältnis das Anderen zu mir als innere Negation zu fassen sei, was bedeutet, daß der Andere für mein Bewußtsein als nicht ich seiend erscheint "..., daß ich nur bin, indem ich mich als nicht der Andere seiend entwerfe und daß der andere nur der Andere ist, indem er sich als nicht ich seiend entwirft..." (17)

Dadurch, daß wir uns gegenseitig als jeweils nicht der Andere seiend entwerfen, sind wir zwar ontologisch voneinander getrennt, aber gleichzeitig im Urentwurf unseres jeweiligen Seins durch der Anderen bestimmt.

XII.
Auf diese Weise gelingt Sartre der Nachweis, daß die Erkenntnis von Fremdexistenz ursprünglicher ist als alle sozialen Strukturen, deren Grundlage immer das Ich und Du ist. Anders ausgedrückt: Bei Heidegger ist das Ich immer schon da, bei Sarte sind immer die Anderen schon insofern da, als ihre Existenz nicht ontologische, sondern faktische, d.h. ontische Notwendigkeit ist.

Das zeigt sich auch darin, daß die Erfahrung des Wir für Sartre nur möglich ist auf der Basis der Begegnung mit einem Anderen, also vom Ich und Du ausgeht. Sartre unterscheidet hierbei zwei Wir-Begriffe, den des Objekt-Wir und den des Subjekt-Wir, die allerdings beide nicht als ontologische Efahrung zu verstehen sind.

Das erstere ist die Enthüllung einer realen Daseinsdimension und entspricht einer einfachen Anreicherung des ursprünglichen Gewahrwerdens des Für-Andere. Die zweite ist einepsychologische Erfahrung, die von einem geschichtlichen Menschen gemacht wird, der in eine bearbeitete Welt und in eine Gesellschaft von bestimmtem ökonomischem Typ eingetaucht ist. (18)

XIII.
Betrachten wir zunächst das Subjekt-Wir: Es erscheint in Form von gefertigten Gegenständen, die zum öffentlichen Gebrauch allen offenstehen. Der Benutzer derselben taucht in diesem Falle in ein Man ein, in dem er notwendigerweise seine Individualität aufgibt, ohne jedoch den Horizont der eigenen Ziele zu verlieren.

Ich erfahre mich im Benutzen der Gegenstände als Teil eines Wir, das dem Imperativ eines Man folgt. Da es sich jedoch bei dieser Art des Gehorchens nur um eine Mittel-Zweck-Relation handelt, verliert der Einzelne auch beim Aufgehen im Man nicht seine Individualität: Ich unterwerfe mich der Uniformierung (Uni-form-ierung) beim Benutzen der U-Bahn als Fahrzeug ("Fahr-Zeug"), um von X nach Y zu gelangen, wo ich etwas erledigen werde. (19)

Wohl unterscheide ich mich von jedem U-Bahn-Benutzer sowohl durch das Auftauchen meines individuellen Seins, als auch die fernen Ziele, die ich verfolge. Aber diese letzten Ziele stehen nur am Horizont meines Tuns. Meine nächsten Ziele sind die des 'Man', und ich erfasse mich als auswechselbar mit irgendeinem meiner Nachbarn. In diesem Sinne büßen wir unsere reale Individualitätein, denn der Entwurf, der wir sind, ist genau der Entwurf, der die Anderen sind. In diesem U-Bahn-Tunnel gibt es nur ein und denselben, seit langer zeit der Sache aufgeprägten Entwurf... (20)

Das Subjekt-Wir setzt gleich in zweifacher Weise die Anerkennung der Fremdexistenz voraus: Um mich als einem Wir zugehörig fühlen zu können, "...muß man sich mitten in irgend-einem Menschenstrome als irgendeiner entdecken."(21)

Zum Anderen verweist mich der angefertigte Gegenstand, den ich benutze, immer schon auf den Hersteller desselben und auf diejenigen, die diesen Gegenstand zu einem bestimmten Gebrauch bestimmt haben. Dieses Um-Zu eines Gegenstandes wird nur offenbar in einem sozial vermittelten Bewandtniszusammenhang. (22)

XIV.
Noch wichtiger wird der andere für die Konstitution des Objekt-Wir. Dieses erscheint nämlich nur auf dem Hintergrund der Begegnung mit einem Anderen: Voraussetzung für eine Situation, in der sich Individuen in dieser Form des Wir befinden können, ist nämlich das Erblickt-werden eines Individuums durch ein anderes. Der Blick bannt den Erblickten in die Faktizität, seine Möglichkeiten, sich zu entwerfen, schrumpfen auf eine einzige zusammen - das zu sein, was er in diesem Moment ist, wodurch er sich selbst entfremdet wird. Durch diese Beziehung bilden die beiden Menschen ein Paar, das in Situation ist.

Betritt nun ein Dritter die Szenerie, ändert sich die Lage schlagartig. Er erblickt die beiden sich in Situation befindlichen Individuen und macht sie so beide zu Gegenständen in seiner Welt.

Die Situation verschwindet deswegen noch nicht, aber sie rinnt aus meiner Welt und aus der des Anderen aus, sie konstitutiert sich inmitten einer dritten Welt in objektiver Gestalt [...] es gibt keine Prioritäts-Struktur mehr, die von mir zum Anderen reicht, oder umgekehrt vom Anderen zu mir, da unsere Möglichkeiten in gleicher Weise für den Dritten, also tote Möglichkeiten sind. (23)

Da sie sich nun beide als sich entfremdet fühlen, muß jeder neben seinem eigenen Draußen-sein aus seiner Welt auch das des Anderen auf sich nehmen. So erfahren sie sich als solidarisch untereinander verbundene Strukturen in einer objektiven Situationsform in der Welt der Dritten.

Das Objekt-Wir wird nur dadurch entdeckt, daß ich jene Situation übernehme, das heißt durch die Notwendigkeit - in der ich mich in der Tiefe meiner übernehmenden Freiheit befinde -, auch den Anderen zu übernehmen, und zwar wegen der Wechselwirkungen im Inneren der Situation. (24)

Bleibt anzumerken, daß zur Konstitution des Objekt-Wir ein konkretes Erblickt-werden nicht notwendig bestehen muß. Allein das Bewußtsein von der Existenz der übrigen Menschheit reichrt aus, um sich von einem Anderen erblickt und einem Wir zugehörig fühlen zu können. "Also kann ich mich, in Anwesenheit oder Abwesenheit Dritter, immer als reine Selbstheit oder aber als zu einem Wir zusammengeschlossen auffassen." (25) Damit ist auch gesagt, daß die solidarischen Strukturen zwischen den einzelnen Menschen ständig bestehen.

XV.
Aus dem bisher Gesagten geht hervor, daß es im Philosophieren Sartres und Heideggers signifikante ideologische Unterschiede gibt. Woraus diese resultieren, verdeutlicht Heidegger im "Brief über den 'Humanismus'"
(26).

Die Frage, welches Denken als Humanismus bezeichnet werden könne, beantwortet er:

Gewiß nicht, wenn er Existentialismus ist und den Satz vertritt, den Sartre ausspricht: précisément nous sommes sur un plan où il y a seulement des hommes (L'Existentialisme est un humanisme p.36) Statt dessen wäre, von 'S.u.Z.' her gedacht, zu sagen: précisément nous sommes sur un plan où il y a principalement l'Être. (27)

Der entscheidende Unterschied im Philosophieren liegt also darin, daß Sartre den Menschen, Heidegger hingegen das Sein denkt. Anders ausgedrückt: Für ersteren ist Eigentlichkeit mit und bei den Menschen zu sein, bei letzterem bei und mit dem Sein zu sein.

XVI.
Die ideologisch-soziale Konkretion seines Denkens heißt für Sartre, das Bild der Gesellschaft zu entwerfen, in der er lebt, sein Philosophieren in den Dienst der Menschen zu stellen.

In seinem ganzen - literarischen wie philosophischen - Werk wird er nie müde zu betonen, daß der Mensch - innerhalb seiner faktischen, durch die Geworfenheit vorgegebenen Möglichkeiten - zwar die Macht zu jeder ontischen Konkretion hat, daß er aber als gesellschaftlich Existierender seinen Mitmenschen Verantwortung und Solidarität schuldig ist - und das umso mehr, als die Basis dieser Gesellschaft Ausbeutung und Ungerechtigkeit sind.

Sartres Denken ist geschichtlich eingeordnet in die Welt des 20. Jahrhunderts mit seinen durch den technischen Fortschritt bestimmten Strukturen, die er in seinem Philosophieren aufdecken und durch dieses überwinden will. Aus diesem Grund demonstriert er als herausragendes Beispiel für die Erfahrung des Objekt-Wir einen Zustand, der das Leben eines Großteils der Menschen der entwickelten Länder bestimmt und beherrscht: die arbeitsteilige Produktion. Das Wir wird in diesem Fall konstituiert durch den Sinn des herzustellenden Gegenstandes, das Arbeitskollektiv erscheint als untereinander solidarisches Mittel zum Zweck der Produktion.

Wir empfinden uns also in der Eigenschaft eines Wir erfaßt durch einen 'zu schaffenden' stofflichen Gegenstand hindurch. Die Stofflichkeit drückt ihr Siegel auf unsere solidarische Gemeinschaft, und wir erscheinen uns als eine werkzeughafte und technische Anordnung von Mitteln, deren jedes seinen ihm durch einen Zweck angewiesenen Platz hat. (28)

XVII.
Heidegger hingegen entwirft ein ungeschichtliches Bild eines archaischen Zusammenlebens, das in der - vermeintlich - heilen Welt vorindustrieller, agrarischer Produktion herrschte.

Vorgeblich heiles Leben, als Gegensatz zu dem beschädigten, auf dessen sozialisiertes Bewußtsein, das 'malaise', der Jargon spekuliert, wird durch seine eingeschliffene Sprachgestalt, fern aller gesellschaftlichen Besinnung, agrarischen Verhältnissen oder wenigstens der einfachen Warenwirtschaft gleichgesetzt als einem Ungeteilten, schützend Geschlossenen, in festem Rhythmus und ungebrochener Kontinuität Verlaufenden. (29)

Phänomene wie Solidarität, unterdrückte und unterdrückende Klassen, Ausbeutung, arbeitsteilige Mehrwertproduktion etc. sind in dieser Welt unbekannt. Heidegger, der vom Land kam, blieb dem Archaischen seiner Heimat, der Schwarzwaldlandschaft, nicht nur sein ganzes Leben lang treu, er machte es auch zum philosophischen - und politischen - Programm (30); seine Welt und sein Denken blieben archaisch:

Wenn in tiefer Winternacht ein wilder Schneesturm mit seinen Stößen um die Hütte rast und alles verhängt und verhüllt, dann ist die hohe Zeit der Philosophie. Ihr Fragen muß dann einfach und wesentlich werden. Die Durcharbeitung jedes Gedankens kann nicht anders denn hart und scharf sein. [...] Meine ganze Arbeit aber ist von der Welt dieser Berge und Bauern getragen und geführt. (31)

Diese Archaik im Denken Heideggers, das einen Zustand mythisch-agrarischen Lebens beschwört, macht es zu einem reaktionären, das hinter den Status quo gesellschaftlicher Entwicklung zurücktreten will. Diese ideologische Eindeutigkeit zeigt sich in 'Sein und Zeit' vor allem im Eigentlichkeitsheroismus, der entwickelt wird auf dem Boden des Vorlaufens zum Tode, in dem die Anderen ausgeschlossen werden durch die Verbannung des Mitseins in die Uneigentlichkeit, in dem der Einzelene je nur sein eigenstes Selbstseinkönnen vor Augen hat. Diese faschistischen Kontaminationen lassen Heideggers Engagement nach 1933 als logische Folge seiner Philosophie erscheinen.

Als Beispiel sollen zwei Stellen aus 'Sein und Zeit' und der Rektoratsrede dienen: "Das Vorlaufen erschließt der Existenz als äußerste Möglichkeit die Selbstaufgabe und zerbricht so jede Versteifung auf die je erreichte Existenz." (32) Dieser Aufruf findet 1933 seine Entsprechung in der Forderung Heideggers:

Die zweite Bindung ist die an die Ehre und das Geschick der Nation inmitten der anderen Völker. Sie verlangt die in Wissen und Können gesicherte und durch Zucht gestraffte Bereitschaft zum Einsatz bis ins Letzte. Diese Bindung umgreift und durchdringt künftig das ganze studentische Dasein als Wehrdienst. (33)

Dazu nochmal Ernst Jünger:

Hier wurde das Schicksal von Völkern zum Austrag gebracht, es ging um die Zukunft der Welt. Ich empfand die Bedeutung der Stunde, und ich glaube, daß jeder damals das Persönliche sich auflösen fühlte und daß die Furcht (34) ihn verließ. [...] Inmitten der Massen, die sich erhoben hatten, war es zugleich einsam... (35)

Heroisch läuft der Einzelne, "für die Ehre und das Geschick der Nation", "bis ins Letzte" sich einzusetzen bereit, in seinen Tod vor, während die Anderen "auch" und "mit" da sind: Das Individuum zählt nicht, einzig die Gruppe, das Wir, in dem dennoch jeder vereinzelt auf sich selbst gestellt ist, ist wichtig.

XVIII.
Was bleibt?

Ein Bild: Sartre - geleitet von der ihm eigenen Solidarität für die Rechtlosen dieser Welt - verteilt im Blitzlichtgewitter bestellter (?) Fotografen die verbotene maoistische Zeitung 'La cause du peuple' auf den lärmenden Boulevards von Paris.

Gleichzeitig rudert Martin Heidegger, verkleidet als Kaffeewerber Prof. Klaus Brinkmann von der Schwarzwaldklinik, in einem Fischerboot auf dem schweigenden Schliersee in den Sonnenuntergang.

Und während Sartre mit seinem Beispiel für Gerechtigkeit und Solidarität die Schlagzeilen der Großstadtpresse sicher sind, erhebt Heidegger sein Haupt und diktiert uns tiefsinnige Worte ins Poesiealbum der Philosophie:

Das Einfache verwahrt das Rätsel des Bleibenden und des Großen. [...] Aber der Zuspruch des Feldweges spricht nur so lange, als Menschen sind, die, in seiner Luft geboren, ihn hören können. Sie sind Hörige ihrer Herkunft, aber nicht Knechte von Machenschaften. Der Mensch versucht vergeblich, durch sein Planen den Erdball in eine Ordnung zu bringen, wenn er nicht dem Zuspruch des Feldweges eingeordnet ist. Die Gefahr droht, daß die Heutigen schwerhörig für seine Sprache bleiben. Ihnen fällt nur noch der Lärm der Apparate, die sie fast für die Stimme Gottes halten, ins Ohr. [...] Der Zuspruch des Feldweges erweckt einen Sinn, der das Freie liebt und auch die Trübsal noch an der günstigsten Stelle überspringt in eine letzte Heiterkeit. (36)
 
 
  Benutzte Literatur  
 
 

  © 1990 Werner Pluta, Das Westfälische Dampfboot; Mail: , Web: http://www.wpluta.de; 04/99 03/04 wp