Verbrecher im Visier

Ein automatisches Überwachungssystem hat die Kriminalitätsrate in Newham stark gesenkt

 
 
  Erschienen in der Berliner Zeitung am 20. Februar 2003. Diesen Text finden Sie auch im Internetangebot der Berliner Zeitung.  
 
 
  In der U-Bahn-Station verkündet ein blau-weißes Schild: "Überwachungskameras ständig im Einsatz". Vor dem Bahnhof gerät der Besucher ins Blickfeld der Kameras. Sein Handy klingelt: "Tragen Sie einen Pferdeschwanz? Wir haben Sie auf dem Bildschirm", tönt es aus dem Mobiltelefon. Einen Moment lang starrt die Kamera noch herüber, dann wendet sie ihr Linsenauge wieder dem Bahnhofseingang zu. "Wir holen Sie gleich ab", sagt der Mann von der Stadtverwaltung noch, dann ist das Telefonat beendet. Wer sich durch Newham bewegt, steht unter Beobachtung.

Etwa dreihundert Kameras wachen rund um die Uhr in dem Bezirk im Londoner East End. In Einkaufszentren, Wohnvierteln, vor den U-Bahn-Stationen beim Stadion des lokalen Erstligisten West Ham United. Die Bilder laufen in einem Kontrollraum zusammen, wo städtische Sicherheitskräfte die Monitore beobachten.

Die Bilderströme einiger Kameras jedoch werden nicht von Videorekordern aufgezeichnet, sondern von Computern gefiltert. Die Computer vergleichen die Menschen auf den Straßen mit einer Datenbank, in der etwa hundert lokale Kriminelle erfasst sind. Erkennt der Computer einen der Gesuchten, schlägt er Alarm. Es ist weltweit das erste automatische Gesichtserkennungssystem, das an eine öffentliche Überwachungsanlage angeschlossen ist.

In den USA, wo das Verteidigungsministerium seit 1993 die Entwicklung der Gesichtserkennung fördert, sind solche Systeme bereits im Einsatz. In Spielkasinos suchen sie nach Spielern, die sich nicht an Hausverbote halten. Die Betreiber von internationalen Flughäfen testen sie ebenso wie Strafverfolgungsbehörden - auch in Deutschland.

Ungefähr eine Viertelstunde dauert die Fahrt zum Hauptquartier des lokalen Sicherheitsdienstes, einem grauen Flachbau mit vergitterten Fenstern am Stadtrand von Newham. Über dem Eingang hängt, klar, eine Kamera. Etwa drei Dutzend Bildschirme flimmern an den Wänden, ständig beäugt von fünf uniformierten Sicherheitsleuten.

Man gibt sich betont freundlich, so als ob man den Eindruck der Beklemmung vergessen machen wolle. Fast zwangsläufig fällt der Standardsatz aller Befürworter von Überwachungsanlagen: Wer nichts zu verbergen habe, brauche die Kameras nicht fürchten. "Wir versuchen, die Straßen für unsere ehrlichen Bürger sicherer zu machen", sagt ein Sprecher der Stadtverwaltung. "Wir wollen keine Kontrolle, sondern wir suchen nach Menschen."

Nach Kriminellen, um genau zu sein. Denn Newham ist nicht so friedlich, wie es zunächst den Anschein hat. Der Abstieg begann in den Achtzigern mit dem Niedergang der nahe gelegenen Docklands, wo viele Newhamer arbeiteten. Mit der Schließung der Docks hielt die Arbeitslosigkeit Einzug, und mit der Arbeitslosigkeit stieg die Kriminalität - bis auf 38 000 Straftaten im Jahr bei 250 000 Einwohnern. Mitte der Neunziger lag der Bezirk auf Platz zwei der Londoner Kriminalitätsstatistik. Dann beschlossen die Stadtväter, Newham solle wieder sicher werden. 1997 installierten sie die ersten Überwachungskameras, im Jahr darauf kam die computergestützte Gesichtserkennung dazu. Mit Erfolg: Im Jahr 2001 lag Newham im Londoner Vergleich auf Platz zehn. Vor allem die Straßenkriminalität wie Diebstahl und Handtaschenraub ging zurück. Allerdings wissen die Sicherheitsbeamten nicht, ob die Kontrolle die Menschen ehrlicher macht oder ob die Kriminellen ihre Aktivitäten in andere Bezirke verlagern.

Gesichtserkennungssysteme verwandeln Gesichter in Zahlencodes und vergleichen diese miteinander. Weichen zwei Codes nur geringfügig voneinander ab, meldet der Computer einen Treffer. Die Hersteller von Gesichtserkennungssoftware nutzen unterschiedliche Algorithmen, um ein Gesicht in solch einen Code zu verwandeln.

In Newham ist das System FaceIt des Branchenführers Identix im Einsatz. "Unser System basiert auf einem Algorithmus namens Local Feature Analysis (LFA)", berichtet Identix-Chef Joseph J. Atick. An verschiedenen Punkten des Schädelknochens, beispielsweise an den Augenhöhlen oder den Backenknochen, ändern sich die Kurvenlinien des Gesichts. Diese Punkte bilden jene Merkmale, die ein Gesicht einzigartig machen. "LFA erstellt eine Art Landkarte des Gesichts, indem es die Entfernungen zwischen mehreren Orientierungspunkten vermisst", sagt Atick. Um ein Gesicht mit einem anderen zu vergleichen, sucht FaceIt nach Gesichtern mit vergleichbaren Merkmalen.

Es gibt zwei Arten der Gesichtserkennung: Authentifizierung (so genanntes one-to-one matching) und Identifikation (one-to-many matching). Systeme zur Authentifizierung werden meist bei der Zugangskontrolle eingesetzt: Das System vergleicht ein Gesicht mit einer Datenbank, in der die Gesichter aller Zutrittsberechtigten gespeichert sind. Findet der Computer das Gesicht vor der Kamera in der Datenbank, gibt er den Eingang frei.

Das Überwachungssystem in Newham hingegen soll einzelne Personen auf der Straße identifizieren. Das dazu erforderliche System ist technisch aufwändiger: Die Software lokalisiert zunächst ein Gesicht in der Menge und schneidet es aus. Dann erst vergleicht sie das ausgeschnittene Gesicht mit den Gesichtern in der Datenbank. Eine Schwierigkeit dabei ist, dass die überwachten Personen nicht eigens in die Kamera schauen oder ihre Sonnenbrille absetzen.

Glaubt das System auf Newhams Straßen einen Gesuchten erkannt zu haben, erscheinen auf einem Monitor das gerade aufgenommene Bild und das Bild aus der Datenbank. Einer der Kontrollraum-Mitarbeiter vergleicht nun die beiden Bilder miteinander. Handelt es sich seiner Meinung nach um dieselbe Person, alarmiert er die Polizei, die den Fall dann übernimmt. Wollen die Ordnungshüter den Verdächtigen lediglich beobachten, kann der Mitarbeiter im Kontrollraum die Person mit der Kamera verfolgen, für die der Rechner gleich eine Handsteuerung aktiviert.

Der Schutz der Persönlichkeit sei trotz solcher Überwachungsmaßnahmen gewährleistet, sagt der Sprecher der Stadtverwaltung. "Wir wissen weder den Namen des Verdächtigen noch weshalb er gesucht wird. Wir haben nur eine Code-Nummer." Für ihn ist der Computer lediglich ein digitaler Mitarbeiter, der seinen menschlichen Kollegen das Starren auf den Bildschirm abnimmt. Der Computer treffe jedoch keine Entscheidungen. Entscheidungen träfen immer nur die Menschen im Kontrollraum.

100 bis 150 Einträge umfasst die Datenbank mit Gesichtern von einschlägig Vorbestraften, die nachweislich in den letzten drei Monaten ihren Aktivitäten in Newham nachgegangen sind. Wer sich benimmt, fliegt raus aus der elektronischen Verbrecherkartei. "100 Kriminelle unter 250 000 Einwohnern - das sind nur 0,04 Prozent", rechnet der Sprecher vor.

Angesichts solcher Zahlen haben die Newhamer Behörden nur wenig Datenschutzbedenken: "Man könnte uns vorwerfen, wir verletzten die Privatsphäre dieser Leute. Aber wir wissen, dass sie für 85 Prozent aller Straftaten verantwortlich sind", sagt der Stadtbedienstete. "Deshalb können wir das rechtfertigen."

 
 
 

 
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