Mob

Aktionskunst via E-Mail

 
 
  Erschienen in der Frankfuter Rundschau am 4. Juli 2003  
 
 
  Die 200 Demonstranten versammelten sich in der Teppichabteilung des Kaufhauses Macy's in New York. 19.27 Uhr zeigte die Uhr in der neunten Etage, als sich die Menge um einen Orientteppich formierte. Sie lebten alle zusammen in einem ehemaligen Lagerhaus in Queens, erzählten sie dem erstaunten Verkäufer, und suchten einen Teppich für ihre Liebesspiele. Sie seien gemeinsam gekommen, weil sie nur als Gruppe einkaufen.

Zehn Minuten lang erläuterten die angeblichen Kommunarden die Vor- und Nachteile der rund 10.000 Dollar teuren Spielwiese. Dann verschwanden sie ebenso plötzlich wieder, wie sie gekommen waren - und ließen den Kaufhausangestellten ratlos zurück. Was den Teppichverkäufer an den Rande eines Nervenzusammenbruches brachte, war in Wirklichkeit eine genau geplante Aktion. Initiiert wurde sie von einem gewissen Bill. "Inexplicable mob", unerklärliche Zusammenrottung, nennt er dieses Mittelding aus E-Mail basiertem Experiment in sozialer Organisation und Aktionskunst.

Am Tag zuvor hatte Bill eine E-Mail an diverse New Yorker mit der Aufforderung verschickt, sie sollten sich pünktlich um 19 Uhr in einer von vier Bars einfinden - entsprechend ihrem Geburtsmonat. Einziges Erkennungszeichen für die Teilnehmer war die genaue Angabe, wo sie sich sammeln sollten: "bei der Jukebox" oder "nahe den Drucken mit den Elefanten und den Leoparden". Kurz darauf tauchten in den Bars einige von Bills Vertrauten auf und instruierten die Mobsters, die sich dann auf den Weg zu Macy's machten, um den Teppichverkäufer zu schockieren.

Die Aktion fand auch im Internet ein Echo. Mehrere Website-Betreiber haben auf ihren Seiten die Aktion mit Fotos dokumentiert. Im Weblog Cheesebikini? diskutierte die Webgemeinde darüber. Sogar die Medien hatten ihren Spaß an der Aktion - ein Mitarbeiter des National Public Radio, des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in den USA, brach während eines Gesprächs mit einem Teilnehmer mehrfach in lautes Gelächter aus.

Die Diskussionen haben Nachahmer angeregt. Er habe Mails von Interessierten aus San Francisco und Chicago erhalten, berichtete Mob-Rädelsführer Bill dem Magazin Wired. "Einer fragte, ob sie meine Idee stehlen könnten. Aber das ist kein Stehlen. Es ist überhaupt kaum eine Idee: ein Mob ohne Grund. Das ist alles."

Einigen scheint Bills Mob jedoch nicht geheuer: "Euch ist klar, dass so Al Qaida agiert. Menschen, die sich nicht kennen, treffen sich zu einer vorgegebenen Zeit an einem vorgegebenen Ort, um eine Anordnung auszuführen", kommentierte ein Netizen in Cheesebikini?. Im Mai hatte einer der Empfänger von Bills erster E-Mail sogar die Polizei alarmiert. Die rückte denn auch mit sechs Polizisten und einem Streifenwagen zum Treffpunkt an. Drahtzieher Bill zog seine Konsequenz und schickte beim zweiten Mal seinen Aufruf zur Spontanaktion auf die letzte Minute. Dabei sind die Aktionen harmlos. Keine politische Überzeugung treibt die Mobsters aus Manhattan - im Gegensatz zu Demonstranten in Washington oder Seattle, die mit solchen spontanen Menschaufläufen politische Veranstaltungen störten. Bill beteuert, dass der Mob "immer respektvoll sein wird, egal, wie groß er wird oder was er skandiert."

 
 
 

 
  © 2003 Werner Pluta, Frankfuter Rundschau; Mail: , Web: http://www.wpluta.de; 08/03 wp