Sprachspeicherkasten

Das Informationszeitalter hält jetzt auch im brasilianischen Regenwald Einzug. Dort lernen die Indios in abgelegenen Dörfern den Umgang mit Computern, die sie als "Kasten, in dem man Sprache speichert" bezeichnen.

 
 
  Erschienen im inzwischen abgeschalteten Online-Nachrichtenangebot Newsboard.de am 5. Dezember 1998.  
 
 
  Ein weltweites Netz soll es sein - und wer will sich dem entziehen? Bis in die entlegensten Winkel der Erde ist es schon vorgedrungen, auch wenn die These, das Internet habe kein Ende, inzwischen widerlegt ist.

Bald könnte auch der brasilianische Regenwald vernetzt sein, wo die Guarani im Reservat Sapukai sich gerade mit Ayu ryrurive, dem "Kasten, in dem man Sprache speichert", wie sie den Computer nennen, vertraut machen. In dem Reservat etwa 150 Kilometer von Rio de Janeiro hat kürzlich die erste Computer-Schule "Araondu Pity Voa" (Gedächtnishilfe) eröffnet. Die Ausstattung ist dürftig: Sie besteht aus vier Computern. Das Reservat ist nicht elektrifiziert, deshalb werden die Computer von einem Generator betrieben, der allerdings immer nur genug Strom für zwei Rechner liefert.

Sechs Guarani hat Rodrigo Baggio vom Comitê Para a Democratização da Informática (CDI) den Umgang mit der Sprachspeicherkasten bereits beigebracht; sie sollen ihr Wissen jetzt an die übrigen Stammesmitglieder weitergeben, allen voran den 120 Schülern der Grundschule. Zudem soll das medizinische Personal die Reservats-Computer nutzen, um Patientendaten zu speichern.

Die Indios wollen die moderne Technik dazu nutzen, um ihre Traditionen und ihre Kultur zu bewahren, aber auch als Lehrmittel und zur Verbesserung der Lebensumstände, wie einer effektiveren Organisation der Landwirtschaft. Berührungsängste mit der Hochtechnologie haben sie offensichtlich nicht. "Diese Maschinen können unsere Kultur nicht zerstören, da sie sehr gut geschützt ist", sagt Joao da Silva, der 85jährige Häuptling der Guarani. Er sorgt sich eher um technische Probleme. "Die Frage ist, ob die Geräte durchhalten, und wenn nicht, wer sie reparieren kann." Nach Angaben einer CIMI-Sprecherin haben die Guarani bereits den ersten Systemabsturz überstanden.

Derzeit leben noch 330.000 Indios in Brasilien, die 215 verschiedenen Stämmen angehören; es gibt 180 verschiedene Indio-Sprachen im größten Land Südamerikas. Bevor die Europäer im Jahr 1500 in Brasilien landeten, lebten auf dem heutigen Staatsgebiet zwischen drei und fünf Millionen Indios.

Das Comitê Para a Democratização da Informática (etwa: Komitee zur Demokratisierung von Informationen) ist eine eine regierungsunabhängige Organisation, die seit etwa drei Jahren alte Computer sammelt und sie in Schulen aufstellt. Die meisten Schulen liegen in den Slums der Großstädte, den sogenannten Favelas. Die Computer in Sapukai hat die CDI mit Hilfe einer Indio-Organisation, der Fundação Nacional do Índio (FUNAI) und einer katholischen Organisation, der Conselho Indigenista Missionário (CIMI), aufgestellt.

 
 
 

 
  © 1998 Werner Pluta, Newsboard.de; Mail: , Web: http://www.wpluta.de; 01/03 wp