Durchbruch mit der Auto-Klangcollage

Kraftwerk spielt seit 25 Jahren Industrial Folk

 
 
  Erschienen in der Berliner Zeitung am 31. August 1995. Diesen Text finden Sie auch im Internetangebot der Berliner Zeitung.  
 
 
  "Das Leben der Vergangenheit war Stille. Mit der Erfindung der Maschine im 19.Jahrhundert entstand das Geräusch. Heute triumphiert und herrscht das Geräusch souverän über die Sensibilität des Menschen. [...] Die futuristischen Komponisten müssen die begrenzte Zahl der Tonlagen und der Instrumente, die heute zu einem Orchester gehören, durch die unendliche Vielfalt der Klangfarben der Geräusche ersetzen, die mit speziellen Geräten erzeugt werden", schrieb der Futurist Luigi Russolo 1913 in seinem Manifest Die Geräuschkunst.

75 Jahre später beschlossen in Düsseldorf zwei junge Männer, vollelektronische Musik zu machen und nannten das Projekt "Die Organisation". Die Hippies haßten es wegen seines kalten elektronischen Sounds, der so gar nicht in ihre bunte Drogenwelt der endlosen Gitarrensoli paßte.

Nach zwei Jahren tauften die beiden Masterminds Ralf Hütter und Florian Schneider ihr zum Quartett aufgestocktes Projekt um in Kraftwerk - und schickten sich an, eine Pop-Band zu werden; bis heute einflußreich. Anfangs nutzten sie noch richtige Instrumente, spätestens seit dem Album "Autobahn" (1974) arbeiteten sie ausschließlich mit elektronisch erzeugten Tönen. Das Titelstück - eine 22minütige Toncollage übers Autofahren, Ausdruck eines heute kaum noch verständlichen Technikoptimismus, brachte den Klangwerkern den Durchbruch. Weniger im eigenen Land, wo sie wegen ihres Auftretens mit dem Charisma von Finanzbeamten als typisch teutonisch belächelt wurden, als vielmehr in Großbritannien und den USA.Dort zeigte man sich begeistert von der "industrial Folkmusic" und dem unnahbaren Image. Ihr bekanntestes Album "Die Mensch-Maschine" enthielt nicht nur den britischen Chartsstürmer "Das Model" (1982), sondern auch "Die Roboter". Das ließen die Klangwerker live von Machinenmenschen darbieten.

Vergeblich sucht man in der elektronischen Musik nach den warmen synkopierten Klängen des Rock 'n' Roll. Im Universum von Kraftwerk gibt es nur Maschinenklänge, Visionen einer technischen Welt aus Computern, Morsezeichen und sterilen Sinuswellen. Der Satz des Bauhaus-Gründers Walter Gropius "Kunst und Technik - eine neue Einheit" könnte als Motto über dem Kraftwerkoeuvre stehen.

Damit wurde Kraftwerk zum Vorreiter für die Popmusik bis heute, legten den Grundstein für Musik und LebensgefühI der 80er. New Wave bis hin zum hitparadenkompatiblen Synthi-Pop a la Depeche Mode und OMD wäre ohne die Vorarbeit der Düsseldorfer undenkbar. Doch auch der Dancefloor der 90er, alle Sparten von House und Techno verdanken Kraftwerk ihre Existenz.

Kraftwerk verstanden sich nie als Rock-'n'-Roll-Band. Starrummel mit Personenkult und kreischenden Fans blieb ihnen fremd, eine Affäre wie um Robbie von Take That undenkbar. Bis heute gibt es keine Meldung, wonach sich Kraftwerk aufgelöst habe. Zu erfahren war nur, daß die beiden Gründer zur Zeit eher mit dem eigenen Musikverlag beschäftigt sind und als Produzenten, weniger als Musikanten. Das kann sich wieder ändern.

 
 
 

  © 1995 Werner Pluta, Berliner Zeitung; Mail: , Web: http://www.wpluta.de; 04/99 wp