Der Industrial-Archaiker

Genesis P. Orridge liest im Tacheles und zeigt Jarman-Filme

 
 
  Erschienen in der taz am 23./24. März 1996.  
 
 
  In seiner Heimat Großbritannien wurde er von der Presse als Satanist und Organisator von Schwarzen Messen gebrandmarkt. Sein Haus in Brighton wurde von der Polizei durchsucht, ein Archiv mit unersetzbaren Dokumenten beschlagnahmt. Um das Sorgerecht für die beiden Kinder nicht zu verlieren, wanderte Familie P. Orrdige nach Kalifornien aus.

Anderen gilt er als großer Magier und Schamane, als Vater der Industrial-Musik oder als Guru von Acid und Techno, und wieder andere halten ihn schlicht für durchgeknallt. Schon in den Sechzigern machte P. Orridge als Fluxus-Künstler von sich reden. In den Siebzigern gründete er die Formation Throbbing Gristle, deren Konzerte selbst den Punks zu heftig waren. Und Ende der Achtziger sprang er mit seiner Band Psychic TV auf den Acid- und Techno-Trend auf. Seither organisiert Genesis P. Orridge Raves. Dazu kamen Projekte mit Schriftstellern und Visionären wie Timothy Leary, William S. Burroughs und Derek Jarman, für den Throbbing Gristle mehrere Soundtracks schrieben.

Throbbing Gristle erschienen Mitte der Siebziger, etwa zeitgleich mit der Punk-Bewegung auf der Bildfläche. Ihr Sound widersprach allen Regeln populärer Musik. Der sollte, so Gründer Genesis P. Orridge, "anti-nostalgisch, anti-R&B, anti-black-music-roots" sein und die ökonomischen und sozialen Realitäten des Industriezeitalters widerspiegeln. Es war mehr Geräusch als Musik, mit Stahlklängen, Fabrikgeräuschen und verzerrten Synthesizern, dazu rezitierte Genesis P. Orridge mit suggestiver Stimme Texte über Sex, Folter und Mord - "Industrial Music For Industrial People". Eine neue Richtung entstand, die mit Bands wie den Einstürzenden Neubauten bald Scharen von Nachahmern fand.

1981 lösten sich Throbbing Gristle auf und Orridge gründete Psychic TV. Herrschten anfangs noch Industrial-Klänge vor, wandten sich die Musiker bald der Psychedelik zu. Einflüsse aus asiatischen und nordischen Mythen traten in den Vordergrund. Doch die Band diente nur als Propagandaarm einer sektenartigen Gruppierung namens "Thee Temple Ov Psychick Youth" (TOPY), deren Oberguru Genesis höchstpersönlich war. Ziel des Tempels war die sexuelle Befreiung. Dazu mußten die Mitglieder Rituale mit Blut, Spucke, Sperma und Scheidensekret ausführen. Tätowierungen und Piercings, letztere Mitte der Achtziger noch weitgehend unbekannt, galten als obligatorisch, weil orgasmusfördernd - und der war im Temple heilig.

Modernste High-Tech und mystische Rituale - diese beiden Komponenten tauchen immer wieder im Werk des Genesis P. Orridge auf. Modernen Primitivismus nennt er das. Throbbing Gristle benutzten vor 20 Jahren neueste Synthesizer-Technologie, wurden von vom Gründer aber als "tribal music des elektronischen Zeitalters" bezeichnet. Psychic TV propagierten archaische Rituale zu Technoklängen. Inzwischen hat sich Genesis aufs Internet verlegt, in dem er deutliche mystische Tendenzen wittert. Außerdem nutzt er es ganz praktisch für ein Online-Archiv über Psychic TV und den Temple Ov Psychick Youth (ftp://ftp.eskimo.com/u/c/carcosa/topy).
Zur Zeit ist Genesis P. Orridge zum ersten Mal seit seiner Übersiedelung nach Kalifornien wieder in Europa unterwegs - nicht mit Psychic TV, sondern mit selbstverfaßten Texten. "Transmediator" heißt die Veranstaltungsreihe. Für musikalische Untermalung sorgt der Berliner DJ Tanith, der zu den Worten des Magiers die Plattenteller dreht und Regler schiebt. Neben Texten und Musik gibt's bislang unveröffentlichte Filme des an Aids gestorbenen Regisseurs Derek Jarman. Die Frankfurter Lesung am 29. wird sogar live im Internet übertragen (http://www.deutschland.de/aka/fruchtig/).

Mitte der Achtziger verkündete Genesis P. Orridge in typischem Understatement, in zehn Jahren werde TOPY die Welt verändert haben. 1991 löste er den Temple wieder auf. Daß er deshalb seinen Job als Visionär an den Nagel gehängt hat, ist eher unwahrscheinlich. Man darf also gespannt sein auf die Botschaften, die der Kirchenvater a.D. für die Jahrtausendwende parat hat.

 
 
  Mo., 25.3., 22 Uhr, Tacheles, Oranienburger Straße 53, Mitte.  
 
 

  © 1996 Werner Pluta, taz; Mail: , Web: http://www.wpluta.de; 04/99 wp