Vortrag ohne Notizzettel

Der Tübinger Literaturwissenschaftler Hans Mayer sprach über Brecht und Beckett

 
 
  Erschienen in der Berliner Zeitung am 15. Dezember 1995.  
 
 
  Germanisten aller Berliner Universitäten, aber auch eine größere Menge Kulturbeflissener füllten am Montag abend das Berliner Ensemble fast bis zum letzten Platz, um den Tübinger Literaturwissenschaftler Hans Mayer zu sehen. Im ehemaligen Brecht Theater am Schiffbauerdamm sprach Mayer über Brecht und Beckett.

Fortschritt und Dekadenz

Anderthalb Stunden dauerte der Vortrag des fast 88jährigen. Es waren anderthalb Stunden freier Rede, ohne ausformuliertes Konzept und Druckreife. Nicht einmal einen Notizzettel mit Stichpunkten befand sich auf dem Tisch vor ihm. Nur ein Mikro und ein Wasserglas, das keine weitere Beachtung fand.

Der Vortrag drehte sich um die Frage von Fortschritt und Dekadenz als Grundthemen stalinistischer Ästhetik. In diesem Zusammenhang galt Brecht stets als fortschrittlicher, Beckett hingegen als dekadenter, somit reaktionärer Autor. Mayer zeigte am Beispiel des technischen Fortschritts die Grenzen der beiden Begriffe auf sowie die einer Literaturwissenschaft, die mit solchen Kategorien operiert. Diese seien Waffen in der Hand dessen, der sich selbst als fortschrittlich ansehe, taugten aber nicht zur wissenschaftlichen Betrachtung von Literatur.

Mayers Auftritt darf man sich nicht als Vortrag eines Gelehrten vorstellen, der sich von seinem Olymp herabläßt und unter das einfache Volk begibt, um es huldvoll an seinem Wissen teilhaben zu lassen. Denn was dieser Mann erzählte, war Teil seines Lebens, wie er gleich zu Anfang erwähnte. Und das bedeutete nicht etwa, daß der Literaturprofessor mit seinen berühmten Bekanntschaften kokettiert hätte. Er sprach als Zeitzeuge von Brecht und Beckett - "Ich sehe sie beide vor mir." -, von Lukacs und Adorno, von der Uraufführung eines Beckettstückes und einem Nachmittag mit Brecht. Daneben war von Lessing die Rede, von Hegel und Büchner. Anekdotisches mischte sich mit Analytischem. Ohne den belehrenden oder selbstbeweihräuchernden Impetus, den derartig Gebildete oft an den Tag legen. Hans Mayer ging es um eine lebendige Auseinandersetzung mit den Texten und den Menschen Brecht und Beckett, nicht um einen Vergleich beider. Vergleiche von Autoren, so Mayer, seien nämlich unsinnig. Er habe seinen Studenten diesbezüglich immer gesagt: "Hier ist der eine, dort der andere. Mehr gibts dazu nicht zu sagen." An dieses Verdikt hielt er sich auch selbst, obwohl der Vortragstitel anderes nahelegte.

Zufriedenes Publikum

Das Publikum jedenfalls schätzte Mayers Vortragstil - obwohl er keine Fragen beantwortete, darum bemüht war, allseits beliebte Allgemeinplätze in Frage zu stellen. Am Ende wurde er noch dreimal auf die Bühne geklatscht. Dabei hatte er doch das Publikum wie Brecht in "Der gute Mensch von Sezuan" zurückgelassen: "Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen/ Den Vorhang zu und alle Fragen offen."

 
 
 

  © 1995 Werner Pluta, Berliner Zeitung; Mail: , Web: http://www.wpluta.de; 04/99 wp