Die Identität existiert als Mosaik ihrer Teile

Jüdische Kulturtage: Israel-Dialoge jüngerer Autoren

 
 
  Erschienen in der Berliner Zeitung am 18. November 1994.  
 
 
  Der Staat Israel ist ein Schmelztiegel von Kulturen, als Einwanderungsland ebenso wie durch seine geographische Lage. Ist es dennoch in den letzten vier Jahrzehnten gelungen, eine spezifisch israelische Kultur zu etablieren, die sich von der jüdischen Kultur der Diaspora unterscheidet? Mit dieser Frage beschäftigen sich dieses Jahr die Israel-Dialoge der Jüdischen Kulturtage.

Politik und Fiktion

In der Anfangszeit des Staates galt in der israelische Literatur quasi das Dogma, daß Autoren über den Staat zu schreiben haben, ihn schreibend zu konstituieren. Gegen die Vorurteile und Klischees der Diaspora, daß Juden nicht produktiv tätig sind, sondern nur mit Kapital hantieren, schrieben sie über "einen jüdischen Arbeiter, einen jüdischen Dieb und eine jüdische Hure", wie es der Dichter Chajim Bialik einmal formulierte. Und sie schrieben in einer Sprache, die es eigentlich nicht gab. Denn das Hebräische existierte fast 2000 Jahre lang nur als Sprache sakraler Texte, nicht aber als Alltagssprache. Als solche besteht es erst seit vier Generationen.

Die vier Autoren, die im Zuge der Israel-Dialoge lesen, ignorieren die Dogmen ihrer Vorgänger, so verscheiden ihre Standpunkte sonst auch sein mögen. Da ist beispielweise der 1926 in Bagdad geborene Sami Michael. Er bezeichnet sich selbst als jüdischen Araber, der lange Arabisch schrieb und sich erst später dem Hebräischen zuwandte. Lange Zeit war ihm breiter Erfolg verwehrt, da er sich dem israelischen Mythos verweigerte und lieber über das Zusammenleben von Araber, Juden und Christen schrieb. Sein letzter Roman "Viktoria", eine im jüdischen Bagdad angesiedelte Familiensaga, wurde zum Bestseller.

Im Gegensatz zu Michael, dessen Blick immer auch über Israel hinausging, reflektiert der 1948 geborene Jitzchak Laor in seinem monumentalen Erstlingsroman "Das Volk, ein Königsmahl" die moralische und ideologische Situation seiner Generation. Am Beispiel der Armee räumt er auf mit der erwähnten Glorifizierung des Staates Israel. "Das Volk, ein Königsmahl" löste, wie ein Kritiker schrieb, ein Erdbeben in der hebräischen Literatur aus und wurde zum Roman des Jahres 1993 gekürt. Furore machte der Laor als Dramatiker bereits im Jahre 1985, als sein Theaterstück "Ephraim kehrt zur Armee zurück" von der Zensur verboten wurde. Laor klagte vor dem obersten israelischen Gerichtshof, die Zensur wurde endgültig aufgehoben.

Orli Castel-Bloom entwirft in ihrem Roman "Dolly City" ein surreales Szenario der Großstadt Tel Aviv. Die Protagonistin Dolly sieht die Welt in Auflösung, sieht Geschwüre auf Autoreifen oder im Hochsommer Schnee fallen - eine apokalyptische Vision der modernen Metropole, wie sie Autoren aus Berlin, London oder New York auch nicht treffender beschreiben könnten. Nicht umsonst bezeichnete die Zeitung Le Monde "Dolly City" als formalen Eintritt hebräischer Literatur in den extremen Modernismus.

In der Levante, am Schnittpunkt von europäischer, orientalischer und jüdischer Kultur siedelt Benny Ziffer, 1953 in Tel Aviv geboren, seinen im Stile eines Dokumentarromans verfaßten "Türkischen Marsch" an. Der Protagonist sucht gleich in mehrfacher Hinsicht nach seiner Identität. Die Elemente levantinischer Kultur spielen bei dieser Suche ebenso eine Rolle wie die französische Sprache seiner aus Istanbul stammenden Vorfahren und der Zionismus, die Wirren Israels und schließlich die Entdeckung der eigenen homosexuellen Neigung. Am Ende steht die Erkenntnis, daß Identität kein festes Bild ist, sondern lediglich ein Mosaik seiner Teile - und zudem noch unvollständig.

Debatte zum Schluß

Die Autoren werden an den Abenden im Literaturhaus zunächst einige Minuten in Hebräisch lesen, danach werden Schauspieler oder Übersetzer Textauszüge in Deutsch vortragen. Zum Abschluß der Veranstaltungsreihe findet im Centrum Judaicum eine Podiumsdiskussion zum Thema "Gibt es eine israelische Nationalkultur?" statt. Neben den Autoren Benny Ziffer, Sami Michael und Jitzchak Laor wird sich die Knesset-Abgeordnete Yael Dayan daran beteiligen. Die Tochter des ehemaligen israelischen Verteidigungsministers Mosche Dayan machte vor allem von sich reden, als sie als erstes Mitglied des Parlamentes mit Yasser Arafat zusammentraf.

 
 
  Israel Dialoge im Literaturhaus, Fasanenstr. 22.11.: Benny Ziffer; 23.11.: Sami Michael; 24.11.: Orli Castel Bloom; 26.11.: Jitzchak Laor; 27.11.: Diskussion in Centrum Judaicum. Beginn jeweils um 20 Uhr  
 
 

  © 1994 Werner Pluta, Berliner Zeitung; Mail: , Web: http://www.wpluta.de; 04/99 wp