Geschichten aus dem Leben
 
 
  Vor einigen Jahren debütierte Silvo Lahtela, in Berlin lebender Autor finnischer Herkunft, mit seinem Roman "Zeichendämmerung". Nun hat er, mit verlagsbedingter Verspätung, einen neuen Roman vorgelegt. Ähnlich wie in der "Zeichendämmerung" geht es auch im neuen Werk "Letzte Obsession" ums Erzählen.

Frank Sticht, ein Regisseur, will einen Monumentalfilm über die Apokalyptischen Reiter drehen. Hollywoodproduzent James Henderson bietet ihm an, den Film zu finanzieren. Er stellt jedoch eine Bedingung: Sticht muß den zuvor Produzenten, der nach dem Selbstmord seines Bruders von der Scheinwelt um ihn herum angewidert ist, davon überzeugen, daß es einen Sinn im Leben gibt. Sticht lädt daraufhin fünf Menschen in eine Festung auf Malta ein und macht ihnen ein Angebot: Sie bekommen zu gleichen Teilen sein ganzes Vermögen, immerhin drei Millionen Mark, wenn es ihnen gelingt, ihn zwei Tage lang mit Geschichten zu unterhalten. Einzige Bedingung: Sie werden die ganze Zeit auf Video aufgenommen. Aus dem Material wird Sticht am Ende einen zwölfstündigen Dokumentarfilm produzieren, mit dem er Henderson "irgendeinen Sinn des Lebens auf Film" präsentieren will.

Soweit die Rahmenhandlung. Den weitaus größten Teil des Romans jedoch machen die Geschichten von Stichts fünf Gästen aus: Anita Schmidt-Bosque, eine Jurastudentin, die gerade von ihrer nicht eben jugendfreien schauspielerischen Vergangenheit eingeholt worden ist, Richard Raßter, ein seines Berufes überdrüssiger Journalist, Rainer Barkesch, krimischeibender Aikido-Lehrer, Eva Testendt, eine Schauspielerin, die es satt hatte, ihre Persönlichkeit auf dem Theater zu prostituieren und deshalb jetzt lieber ihren Körper prostituiert, und schließlich Andreas Dist, semiprofessioneller Schriftsteller und Taxifahrer, der zufällig in die Geschichte gerät, als seine alte Freundin Eva Testendt in sein Taxi steigt, um sich von ihm nach Köln zum Flughafen kutschieren zu lassen. Dort angekommen überredet sie ihn, den Wagen stehen zu lassen und statt dessen mit ihr in den Süden zu fliegen.

Ein Wochenende, besser gesagt, zwei Nächte lang erzählen sie. Erzählen im Angesicht eines Koffers mit drei Millionen, ständig beobachtet von drei Videokameras und dem kritischen Auge des Regisseurs. Erzählen von Liebe, Inzest, Neid und Mord, Tod, Grausamkeit, Zivilcourage und "von der dummschmierigen Halbwelt des Geistes" - drei Geschichten pro Nase, das macht 15 Erzählungen auf über 400 Seiten. Alle erzählt in kräftigen Farben, mit überraschenden Wendungen und Einfällen, wie beispielsweise der rotblonde Tennisstar mit dem Spitznamen Peng-Peng-Peter, treffenden Metaphern. Von Pastellfarben, blutleeren Figuren oder langatmigen Dialogen hält Lahtela ebensowenig wie von seitenlangen Detailbeschreibungen. Er zieht alle Register des Lebens. Sex, Liebe, Tod, Gewalt, Freude, Schmerz, Wahnsinn - alle Ausdrucksformen menschlichen Lebens werden Gegenstand seines temporeichen Erzählens.

Alle Geschichten, sowohl Erzählungen als auch die Lebensläufe der Figuren, eskalieren am Konflikt zwischen dem Versuch eines selbstbestimmten Lebens und den Zwängen einer durch und durch verwalteten Welt. Vor allem die Medien sind es, die das Leben überlagern. Real ist nur, was medial festgehalten ist. Perversestes Beispiel ist der Selbstmord des Produzentenbruders, der seinen Freitod im Wasser und seine anschließende Verwesung mittels einer umgeschnallten Videokamera festhält, die sich alle Stunde für eine halbe Minute einschaltet.

Am Ende scheitert Stichts Vorhaben, trotz aller Mühe. Alles Erzählen vom real life kann den Produzenten nicht davon überzeugen, sein Geld, so wie Sticht, in ein aussichtsloses Unternehmen zu investieren. Was bleibt ist nur sein Angebot an Sticht, einige der Geschichten zu verfilmen, Geschichten aus dem wirklichen Leben zu transponieren in die mediale Scheinwelt, gegen die sie anerzählen. Aber Sticht ist pleite - und von irgendetwas will schließlich jeder leben.

 
 
  Silvo Lahtela: Letzte Obsession. Roman. Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf, 1995. 427 Seiten, 49.80 Mark.  
 
 

  © 1995 Werner Pluta; Mail: , Web: http://www.wpluta.de; 04/99 wp