Ein Lügner sagt die Wahrheit

Louis Begleys Roman über eine verdrängte Kindheit

 
 
  Erschienen in der Berliner Zeitung am 4. Mai 1995. Diesen Text finden Sie auch im Internetangebot der Berliner Zeitung.  
 
 
  Mehr als 35 Jahre dauerte es, fast 60 Jahre mußte er alt werden, bis er sein Schweigen brach, die Lügen aufdeckte. Louis Begley, Anwalt aus New York, als polnischer Jude 1933 geboren, hat lange seine Herkunft verleugnet. Anfangs um zu überleben, später weil er seine Kindheit nicht ertragen konnte. Er erfand sich eine neue.

Seine Kindheit war eine Kindheit auf der Flucht - vor den SS-Schergen und vor antisemitischen Polen, die nur zu gern mit den verhaßten deutschen Besatzern zusammenarbeiteten, wenn es darum ging, die noch verhaßteren Juden loszuwerden.

Alltäglicher Terror

Das Kind Maciek ist in Ostpolen geboren. Die Mutter stirbt im Kindbett. Als die Deutschen Österreich annektieren schlägt die bei Vater und Sohn lebende Tante Emigration vor. Doch der Vater, Arzt und polnischer Patriot, will bleiben. Nach der Eroberung durch die Deutschen evakuieren die Sowjets das Krankenhauspersonal, auch Macieks Vater. Die achtjährige Halbwaise und ihre Tante müssen untertauchen. Sie besorgen sich "arische" Papiere, mit deren Hilfe es ihnen gelingt, den Krieg - und die ersten antisemitischen Progrome im befreiten Polen - unbeschadet zu überstehen.

Begley schreibt lakonisch, ohne moralische Wertungen. Er beschreibt die Ereignisse so, wie sie geschahen - als alltägliche Begebenheit des Terrors, als permanente Ausnahmesituation, die wegen ihrer Dauerhaftigkeit schon fast alltäglich geworden ist. Während der Deportation der Überlebenden des Warschauer Aufstandes 1944 sucht eine junge Frau sich und ihr Baby zu retten, indem sie sich einem deutschen Offizier zu Füßen wirft und ihm ihr Kind entgegenhält. "Der Offizier ergriff das Kind, befreite seine Stiefel aus der Umarmung der jungen Frau und trat ihr heftig gegen die Brust. Mit einem oder zwei Schritten erreichte er das nächste offene Kanalloch. [...] Er hielt das Kind hoch, betrachtete es konzentriert und ließ es in den Kanal fallen. Die Ukrainer brachten die Mutter weg. Kurz darauf marschierte die Kolonne weiter."

Begley will die Wahrheit zu sagen - auch die Wahrheit über das Kind Maciek, das sich gewisser Sympathien für die schnieken SS-Männer nicht erwehren kann. "Ich fand eine Sammlung Zinnsoldaten und Artillerie. [...] Ich beschloß, daß alle diese Truppen Wehrmacht und SS sein sollten; sie sahen wie Sieger aus. Meine alten Soldaten waren mehr wie die zerlumpte russische Armee gewesen, die sich in sechs Monaten ... bis nach Moskau hatte zurückjagen lassen."

Einmal will auch er auf der Seite der Sieger stehen. In der Wanzenjagd findet er endlich das "Kriegsspiel, in dem ich wenigstens in begrenztem Rahmen Jäger und Aggressor sein konnte". Ansonsten leidet er unter dem Versteckspiel, den Lügen, die "konsistenter als die Wahrheit" sein mußten. "Ich mochte den Gedanken nicht, ein Krimineller zu sein."

Der Roman endet damit, daß das Kind Maciek, das inzwischen die Stätten seiner Kindheit verlassen hat, dem Mann, der aus dem Kind geworden ist, lästig wird. Er läßt es allmählich sterben.

Das zumindest glaubt er. Doch der Mann, der er geworden ist, ist nicht authentisch, er ist sozusagen nicht er selbst. "Das Lügen war mir so sehr zur Gewohnheit geworden, daß ich zwanghaft log, ob ich wollte oder nicht, und ich glaubte auch nicht mehr, daß Tanja oder ich selbst mir Schwäche, Dummheit oder Fehler verzeihen können." Der Mann, der aus dem Kind Maciek geworden ist, meidet Holocaust-Bücher und "Plaudereien über Polen im Zweiten Weltkrieg".

Voyeur des Bösen

Statt dessen liest er fasziniert "Berichte über Folterungen von Dissidenten und politischen Gefangenen", stellt sich die Verhöre "bis in alle Einzelheiten vor", fragt sich, wie lange er wohl ausgehalten hätte. "Er ist ein Voyeur des Bösen geworden, starrt gebannt auf die grauenvollen Szenen, die vor seinem inneren Auge ablaufen; manchmal weiß er nicht, welchen Part er darin spielt. Mußte das Kind, das er einmal war, sich so entwickeln, ist das der Preis für das Überleben?"

 
 
  Louis Begley: Lügen in Zeiten des Krieges. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 1994. 223 S.; 36 Mark.  
 
 

  © 1995 Werner Pluta, Berliner Zeitung; Mail: , Web: http://www.wpluta.de; 04/99 wp