Die Sackgassen von Berlin

ProSieben setzt bei der neuen Staffel der "Straßen von Berlin" auf Effects statt Handlung

 
 
  Ein jüdischer Historiker mit Namen Simon Goldberg soll im ICC einen Vortrag halten. Thema: Die Schuld der Deutschen am Holocaust. Er wird bewacht von einem schwerbewaffneten Sondereinsatzkommando mit kugelsicheren Westen und Helmen. Im Foyer klingelt sein Handy. Goldberg tritt aus dem Glied, um in Ruhe zu telephonieren. Schnitt: Eine Frau in einer Telephonzelle. Gegenschnitt: Goldberg am Fenster, auf der Brücke, die das Berliner ICC mit den alten Messehallen verbindet. Ins Visier genommen von zwei Männern mit einer Panzerfaust, die per Schnitt und Gegenschnitt ihren Einsatzbefehl aus der Kommandozentrale bekommen. Über Funk und im Klartext. Feuer frei. Die Granate schlägt ein, Goldberg stirbt, die Brücke des ICC schwankt noch einen Moment unentschlossen und stürzt dann auf die Fahrbahn.

Wer über Funk im Klartext kommuniziert, den ereilt sogleich die Strafe des Lauschangriffs: Der Verantwortliche für dieses Attentat wird, noch während seine Sendlinge den Historiker anvisieren, per Computer (Datenbankabfrage in Sekundenschnelle) ermittelt und sofort festgenommen. Der Inhaftierte wird in einem gläserner Käfig in einer Art Heizungskeller gefangen gehalten, der verdächtig dem Domizil des Massenmörders Hannibal "The Cannibal" Lecter in "Das Schweigen der Lämmer" gleicht. Allerdings trägt Kessler, gespielt von Hark Bohm, keine Eishockey-Maske mit Maulsperre und beißt auch Staatsanwalt Doktor Maas alias Dieter Mattausch nicht die Nase ab. Was einen ganzen Film füllen könnte, erledigt ProSieben im Piloten zur neuen Staffel der Straßen von Berlin en passant vor dem ersten Werbeblock.

Nach der Werbepause versuchen die Kampfgenossen des inhaftierten selbsternannten Führers Kessler, diesen freizupressen. Um der Forderung Nachdruck zu verleihen, bestellt Kessler den Staatsanwalt in Wildwestmanier zum Showdown: "Also morgen um zehn an historischer Stätte, am Reichstag. Seien Sie pünktlich, wir sind es auch." Überflüssig zu erwähnen, daß Kessler aus seinem Aquarium ständig mit seinen Gesinnungsgenossen in Kontakt steht. Der Staatsanwalt nimmt an. Mann gegen Mann, ohne Rückendeckung. "Nein, ich gehe allein.", lehnt er das Angebot seiner Leute ab, ihn zu begleiten. Ehrlich eben. Vor dem Reichstag sprengen die rechtsradikalen Feuerwerker einen Baukran. Der neigt sich elegant, kippt und erschlägt ein Kind. Ein Kind. Auf einer Großbaustelle.

Glaubt man den Autoren Ralf Bohn und Werner Masten, geht es in Berlin zu wie in den Ghettos amerikanischer Großstädte. Das Verbrechen blüht in der Hauptstadt: Mord, Totschlag, Bombenattentate, Zigarettenschmuggel, Drogendelikte. Und dazwischen die Kriminalpolizei, die Waffe in Miami Vice-Manier im Anschlag, die in einer konspirativen, mit HiTech vollgestopften Einsatzzentrale residiert. Davon kann der einfache Wachmann in seiner "Otto Normalverbraucher-Dienststelle" nur träumen, der seine Berichte noch auf der Schreibmaschine tippt - "Marke Olympia, weiß", erzählt ein Berliner Polizist.

Eine innere Logik, eine einheitliche Geschichte? Fehlanzeige. Die Handlung der einzelnen Folgen zerfällt in Schnipsel, wirkt montiert wie Musikvideos. Die schnellen Schnitte dienen auch nicht als Stilmittel, um die Handlung zu beschleunigen - es gibt keine Handlung, die es zu beschleunigen gilt, die "Straßen von Berlin" führen ins Leere. Wenn es mit dem Inhalt nicht hinhaut, muß der Film auf andere Weise zusammengehalten werden; also hangelt sich die SoKo von Effect zu Effect. Tatsächlich ähneln die "Straßen von Berlin" im Aufbau einem Porno: Ist hier der Handlungsablauf ist immer auf den nächsten Akt ausgerichtet, steuert der Plot der ProSieben-Krimis zielsicher auf den nächsten Effekt zu: eine gesprengte Wohnung in den stalinistischen Bauten an der Karl-Marx-Allee (von deren Bauarbeitern der Aufstand des 17. Juni ausging), eine Schießerei in Wildwest-Manier am S-Bahnhof Savignyplatz - Verluste an Zivilisten inklusive, eine in wilder Verfolgungsjagd durchbrochene Bushaltestelle bis am Ende in bester "Speed"-Manier ein Bus auf einem Flughafen in einem riesigen Feuerball aufgeht. Allerdings nicht wie im amerikanischen Original nach dem Zusammenstoß mit einer Passagiermaschine, sondern, vermutlich wegen geringerer Budgets, mit einem Tanklaster. Da lacht der Effektmann.

Den hat ProSieben auch erstklassig besetzt: Für die Visual Effects zeichnet der Wahl-Kalifornier Mark Weigert verantwortlich, der schon an Roland Emmerichs "Independence Day" mitgearbeitet hat. Es sei immer schwer zu entscheiden, was ihn an einer Produktion mehr reize - das Drehbuch oder die Effekte, sinniert Weigert. Bei den Straßen von Berlin sei es aber weniger das Buch gewesen. "Obwohl die Fassung, die ich gelesen habe, wirklich recht gut war. Ich habe eher das Gefühl, daß es "zu Tode entwickelt" worden ist. Das ist ein Phänomen, das ich oft erlebt habe: Es gibt ein Drehbuch, das in einer frühen Fassung schon sehr gut ist. Dann wird angefangen, das Buch zu "entwickeln", d.h. Redakteure von den Fernsehsendern geben ihre Kommentare, Produzenten und Produktionsleiter kürzen am Buch herum, weil sie denken, daß dieses oder jenes nicht möglich ist für ein bestimmtes Budget, und dann kommt zuletzt auch noch der Regisseur und ändert während der Dreharbeiten (!) am Buch herum."

Auch wenn die Themen der Serie nah an der Realität sind: rechter Terror, Schmuggel von Beutekunst aus Rußland, unter Beteiligung des deutschen Kulturattachés, zigarettenschmuggelnde Vietnamesen-Gangs, organisierte Drogenkriminalität - bleibt die Handlung letztlich im Klischee stecken. Der Polizist, dessen Beziehung an der Arbeit kaputt geht (was sich aber als nicht so tragisch herausstellt, da die Freundin sowieso von den Nazis hingerichtet wird), der Staatsanwalt, der weniger dem Auftrag des Grundgesetzes verpflichtet ist, sondern dem des Parteibuches (das-natürlich-nicht-genannt-wird-aber-wir-wissen-doch-um-welches-es-sich-handelt), der Innensenator, der den Staatsanwalt stets auf dasselbe hinweist, nie in seinem Büro, sondern ganz konspirativ auf dem Flur des Dienstgebäudes. Überhaupt ist der Innensenator das Abziehbild eines Innensenators, der mit allseits bekannten Plattitüden um sich wirft ("Der Staat darf sich nicht erpressen lassen") und - natürlich - auf dem rechten Auge blind ist, weshalb er den Staatsanwalt zur Vertuschung anweist: "Und lassen Sie sich für die Schweinerei am Reichstag etwas einfallen.", man solle den Anschlag doch den "linken Chaoten und HauptstadtgegnerN" in die Schuhe schieben - was umso schlimmer ist, als das schale Gefühl bleibt, diesen Innenpolitiker doch kurz zuvor erst in den Nachrichten gesehen zu haben.

Derlei ficht jedoch die Zuschauer offensichtlich nicht an - sehr zur Freude von ProSieben-Programmdirektor Jan Körbelin, der im Presseinfo "stolz" verkündet, ProSieben habe mit der ersten Staffel der Serie Berlin "eine der erfolgreichsten Krimi-Reihen seit dem "Tatort" geschaffen". Es steht also zu befürchten, daß auch uns in Zukunft "sorgfältig recherchierte, spannende Stories" nicht erspart bleiben werden. Freuen wir uns also auf die nächste Staffel der "Staßen von Berlin". Für den nötigen Knalleffekt sorgt dann bestimmt die Sprengung des Fernsehturms auf dem Alexanderplatz.

 
 
 

  © 1998 Werner Pluta; Mail: , Web: http://www.wpluta.de; 04/99 wp