Das Ende der Linearität
 
 
  Ein Bericht über die interActiva in Berlin und die ars digitalis in der Medienstadt Babelsberg im Herbst 1996. Der Text war für den pl@net bestimmt. Leider hatte der Verlag zu dem Zeitpunkt, zu dem der Text erscheinen sollte, bereits die Einstellung des Magazins beschlossen. Die vorgesehene Ausgabe, Februar 1997, war die vorletzte und erschien bereits mit verringertem Umfang. Dem "Down-sizing" fiel dieser Text zum Opfer.  
 
 
  Den Boom eines Produktes kann man am besten an der Häufigkeit von Kongressen, Messen und Festivals ausmachen. Die Zahl der Mulitmedia-Messen ist in letzter Zeit sprunghaft angestiegen. Kaum ein Wochenende, an dem nicht irgendwo Mulitmediafirmen ihre Produkte vorstellen. Dabei wird oft vergessen, daß hinter den großen Distributionsfirmen vor allem kleine Kreativschmieden stehen, die die eigentliche Arbeit verrichten. Das sind genau jene, die auf der interActiva, 5. Festival für interaktive Medien, auf dem Gelände der Medienstadt Babelsberg zusammenkamen. Sie ist das einzige Event, das sich nicht mit dem Marketing-, sondern mit dem kreativen Aspekt von Multimedia beschäftigt.

In Workshops stellten die Macher ihre Arbeit vor und diskutierten über neueste Entwicklungen in der Branche. Wie auf dem Workshop "Interactive Storytelling - die Dramaturgie des Dialogs". Interaktive Medien verlangen eine neue Dramaturgie, eine neue Art und Weise, eine Geschichte zu erzählen. Sie bieten dem Rezipienten die Chance, nicht mehr nur passiver Konsument zu sein, sondern selbst den Handlungsablauf zu bestimmen. Als Beispiel stellte die Gruppe "Interactive Films", ihr Projekt "Interactive Berlin: The Third Reich - The Bergmann Family Saga" vor, eine für den angelsächsischen Markt bestimmte Familiengeschichte aus dem nationalsozialistischen Deutschland. Die Geschichte aus Spielszenen und Dokumentarmaterial gewährt Einblick in den Alltag unter dem Hakenkreuz. Der Spieler kann die Geschichte aus der Perspektive eines Charakters erleben, die Situation mit dessen Augen sehen, aber auch immer wieder die Person und damit die Perspektive wechseln.

Also kein lineare Geschichten mehr, sondern ein "multilinear storytelling", wie es der Screen Designer Eku Wand nennt, selbst Verfasser eines spannenden Spiels rund um die Berliner Mauer mit dem Titel "Berlin Connection". Multilineares oder interaktives Erzählen bietet ganz neue Möglichkeiten, objektive Geschichte durch eine subjektive Sichtweise zu veranschaulichen, zum Beispiel durch die Montage von Spielhandlungen vor einer historischen Filmsequenz.

Doch diese Form der Interaktivität stößt nicht auf ungeteilte Zustimmung. So warf der Berliner Medienkünstler Burkhard Welzel, der selbst "interaktive Installationen" kreiert, ein, die Interaktivität solcher CD's sei zu beschränkt, da sie sich immer noch in vorgefertigten Bahnen bewege. Seiner Ansicht nach fängt Interaktivität erst dort an, wo der User auch selbst in die Struktur des Programms eingreifen könne.

Seine Vorstellung von Interaktivität sieht dann auch ganz anders aus: Bei einer seiner Installationen ging es darum, einem Roboter das Sprechen beizubringen. Der Roboter bestand aus einem Bildschirm mit dem bekannten Mondgesicht (Punkt, Punkt, Komma, Strich, das ja in der elektronischen Post wieder zu ungeahnten Ehren gekommen ist), einem Sprachein- und -ausgabemodul sowie einem Computer, der die Eingaben speicherte. Ziel war es, daß der Cyborg am Ende der Ausstellung zumindest über einen Grundwortschatz verfügte und eine einfache Kommunikation mit den Besuchern führen konnte. Von solchen Möglichkeiten der Interaktivität ist die CD-ROM in der Tat noch weit entfernt.

In einem Punkt waren sich jedoch alle einig: Genau wie in der konventionellen Erzählung geht es auch beim interaktiven Erzählen um die Geschichte - Was soll erzählt werden? Welche Informationen und Gefühle vermittelt werden? - und nicht um das mehr oder weniger gekonnte Herumspielen mit Autorentools. Vergleiche mit der aktuellen Kinolandschaft drängen sich geradezu auf.

Doch auch wenn sich die Einsicht breitmacht, daß Multimedia, immerhin von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres 1995 gekürt, ein großer Markt der Zukunft ist, so mangelt es derzeit an qualifizierten Arbeitskräften, wie Multimedia-Producern oder Screendesignern, weil Ausbildungsmöglichkeiten fehlen. Als kürzlich eine neue 3D-Animationsfirma nach einem geeigneten Standort suchte, standen drei Orte mit einem jeweils spezifischen Kriterium zur Auswahl: das indische Madras mit qualifizierten und kostengünstigen Programmierern, Babelsberg mit der technischen Infrastruktur des High Tech Center oder Valenciennes in Frankreich mit einer Multimediaausbildungsstätte. Am Ende waren weder niedrige Lohnkosten, noch technische Ausstattung ausschlaggebend für die Wahl des Standortes, sondern einzig und allein die Aussicht auf gut ausgebildete Arbeitskräfte der Kreativschmiede Valenciennes.

Und auch des Cybernauten liebstes Kind, das Internet, kam auf der interActiva nicht zu kurz. Während geplagte Surfer immer noch über Flaschenhälse und mangelnde Bandbreiten jammern, präsentierten die Profis Projekte, die Modemnutzern die Tränen in die Augen treiben. Breitbandnetze und ATM wurden auf dem Podium propagiert, von Bandbreiten von 155 Mbit/s war die Rede. Beispielhaft ist derzeit das Projekt Sohonet in London: In Eigenregie, aber in Kooperation mit der British Telecom haben Postproduction-Firmen ein eigenes Glasfasernetz durch den Stadtteil verlegt, um den Transfer von zu bearbeitenden Filmsequenzen, Animationen und Previews zu erschwinglichen Preisen abwickeln zu könne. Mit einem hohen Aufkommen von 12 bis 15 Megabyte großen Dateien in möglichst kurzen Übertragungszeiten sind die üblichen Telekom-Netze heillos überlastet. Noch ist Sohonet das einzige Projekt seiner Art, doch zunehmende Arbeitsteilung und Kooperation in der Medienproduktion macht in Zukunft mehr solcher Netze notwendig - und die Internetter hoffen, daß die Mediennetze am Ende auch ihnen zu Gute kommen, sind sie sich doch mit Neil Harris, dem technischen Direktor des Sohonet, darin einig, daß das Internet derzeit nicht mit technischen Einrichtungen, sondern schlicht mit Glück funktioniert.

Wundersames passierte unterdessen in Berlin. Nach Einbruch der Dunkelheit erstrahlten auf verschiedenen Gebäuden der Stadt riesige Projektionen. Der ars digitalis-Wettbewerb machte aus der Stadt einen öffentlichen Kunstraum. Anlaß für diesen Wettbewerb, der den Abschluß einer dreiteiligen Veranstaltungsreihe bildete, war die 300-Jahr-Feier der Hochschule der Künste (HdK), Berlin. (siehe auch Bericht in pl@net 7/96)

Gesucht waren digitale Bildsequenzen: "Wichtig sind Rhythmus und Sinnlichkeit: das Sehen von Tönen, das Hören von Bildern, das Fühlen von Texten - als neue Qualität digitaler Gestaltung." Kriterium war dabei weniger die Ausführung, sondern vielmehr die Idee. Der künstlerische Aspekt sollte im Vordergrund stehen, nicht der technische, die Umsetzung von Tönen in Bilder. Folgerichtig auch der Wettbewerbssieger, das Projekt "In Progress" des polnischen Künstlers Jacek Szleszynski: Ein Quadrat, in dem sich zunächst kleinere Strukturen zu Musik bewegen, dann rhythmisch die Farben wechseln und am Ende teilt sich das Quadrat in viele bunte, zuckende Einzelteile. Eine gelungene Synchronisation von Bildern, Tönen und Farben.

Auch der Wettbewerbsvorgabe, die Arbeiten müßten auf große Flächen projizierbar sein und nicht auf Leinwände oder glatte Flächen, genügte "In Progress". Bei der Auswahl ging die Jury entsprechend vor: Beiträge mit konventioneller oder Videoästhetik wurden aussortiert. Die verbleibenden wurden auf rauhe Untergründe, verzerrt oder über Eck projiziert. Nur so sollte das Konzept sichtbar werden, das hinter dem Beitrag stand - bei der öffentlichen Präsentation auf Mauervorsprünge, auf Glas, auf Fensterbrüstungen oder auch ins Deckengewölbe des HdK-Foyers. "Wir haben keine fertigen Filme gesucht, sondern eben Ideen, was man mit dem neuen Werkzeug alles machen kann", erzählt Jeannot Simmen, Jurymitglied und Organisator der ars digitalis. "Dann sieht man plötzlich, daß eben das Realistische, das man mit Photoshop und ähnlichen Programmen machen kann, nicht rüber kommt, daß solche Sachen in der großen Projektion nur einen Grauschleier ergeben. Wohingegen die Sachen mit bestimmten graphischen Flächen, eher plakative Sachen, viel interessanter waren."

Der Computer wird mehr und mehr zum Leitmedium unserer Gesellschaft. Deshalb hat digitale Kunst als gegenwärtige Avantgarde gegenüber anderen avantgardistischen Strömungen der Moderne einen ganz anderen Stellenwert. Stellten sich die Avantgardisten früher bewußt außerhalb der Gesellschaft, entwickelt die digitale Avantgarde aus der Mitte der Gesellschaft heraus ein neues Paradigma von Ästhetik. Es scheint als hätten die traditionellen Mittel der Kunstproduktion ausgedient.

Doch die digitale Kunst steht erst am Anfang. Zu sehr kleben viele Künstler noch an der Videoästhetik und nutzen noch zu wenig die Möglichkeiten der Vermischung aller Medien. "Es hat uns überrascht, daß es nur wenige Beiträge gab, wo die Leute das Bilderrauschen vom Fernsehen genommen und mit diesen Datenmengen neue Bilder erzeugt haben. Ein Bildersamplingsystem sozusagen. Das wäre konsequent: nicht mehr Schöpfer von neuen Bildern zu sein, sondern das Vorhandene benutzen und digital umformen. Auf dem Gebiet fehlt es noch an Experimentierfreudigkeit", schätzt Simmen.

Ob in diesem Sinne die Entscheidung der Jury für den Beitrag "In Progress" glücklich war, ist eine andere Frage. Denn trotz "optimaler Synästhesie von Bild und Ton" (Urteilsbegründung) gehorcht Szleszynkis Beitrag auch noch einer eher konventionellen Ästhetik. Aber die ars digitalis 1996 war ja erst ein Anfang. Man darf jedenfalls gespannt auf die nächsten Ausgabe sein, die vom 5. bis 7. Oktober 1997 stattfinden soll.

 
 
  URL's:
interActiva: http://www.babel.de/interactiva
ars digitalis: http://www.ars-digitalis.de
Sohonet: http://www.soho.co.uk/
High Tech Center: http://www.babel.de/
Medienstadt Babelsberg: http://www.medienstadt.de/
Videofest: http://www.mediopolis.de/
 
 
 

  © 1996 Werner Pluta; Mail: , Web: http://www.wpluta.de; 04/99 wp