Die lange Nacht der Roten Garden

Vor dreißig Jahren begann die chinesische Kulturrevolution - sie forderte Millionen Opfer und stürzte das Land ins Chaos

 
 
  Erschienen in der Berliner Zeitung am 3./ 4. August 1996. Diesen Text finden Sie auch im Internetangebot der Berliner Zeitung. Der in diesem Artikel erwähnte Ren Shimin war ein Kampfgefährte des Regisseurs Chen Kaige, der seine Erlebnisse während der Kulturrevolution in dem Buch Die Kinder des Drachen verarbeitete.  
 
 
  Beijing, Platz des Himmlischen Friedens 18.August 1966: Auf dem Platz haben sich Millionen Menschen versammelt. Sie tragen blaue oder grüne Anzüge, an der Brust einen Anstecker mit dem Konterfei Maos, in der Hand ein kleines, rotes Buch singen sie: "Der Osten ist rot, die Sonne geht auf, China hat einen Mao Zedong hervorgebracht. Er bemüht sich um das Glück des Volkes, Hurra. Er ist der Retter des Volkes."

Diese Massenversammlung war der erste Höhepunkt einer Kampagne, die in den nächsten Jahren China radikal verändern sollte und erst mit Maos Tod im Jahr 1976 endgültig beendet wurde: die Kulturrevolution. Eine bald blutige Bewegung, die das Land ins Chaos stürzte und Millionen von Opfern forderte. Denunzierte, Gedemütigte, Verletzte und eine Million Tote.

Wandzeitungen

China, Ende des Jahres 1964: Mao Zedong befürchtet seine Macht zu verlieren und beginnt, eine zweite Revolution zu entfesseln."Wie viele unserer Industriebetriebe werden von kapitalistischem Management geleitet? Ein Drittel? Die Hälfte? Oder mehr?" fragt er. Und fordert kurz darauf im chinesischen Politbüro eine Bewegung "gegen diejenigen Machthaber in der Partei, die den kapitalistischen Weg gehen". Damit ist vor allem sein persönlicher politischer Gegner, Staatspräsident Liu Shaoqi, gemeint.

Der Konflikt im Politbüro eskaliert nach der Entlassung der Beijinger Vizebürgermeisters Wu Han Ende 1965. Wu hatte ein Theaterstück verfaßt, von dem sich Mao persönlich angegriffen fühlt. Im Frühsommer 1966 folgen dann Entlassungen weiterer KP-Funktionäre.

Bald überstürzten sich die Ereignisse in diesem Jahr: In den Partei- und Armeezeitungen wird zum Klassenkampf und zum Kampf gegen bürgerliche Ideen aufgerufen. In den Universitäten der Hauptstadt tauchen revolutionäre Wandzeitungen auf. "Wir müssen uns zusammenschließen, um das rote Banner der Lehre Mao Zedongs hochzuhalten, uns um das Zentralkomitee der Partei und den Vorsitzenden Mao scharen, die verschiedenen Kontrollen der Revisionisten beseitigen und alle ihre Pläne vereiteln; wir müssen alle finsteren Elemente und alle konterrevolutionären Revisionisten chruschtschowschen Typs entschlossen, gründlich, restlos und vollständig vernichten und die sozialistische Revolution bis zum Ende führen", kann man zum Beispiel am 25.Mai in der Beijing-Universität lesen.

Am 29.Mai gründen 49 Schüler der Qinghua-Mittelschule die erste Rote Garde. Mit dabei: Ren Shimin, der heute in Berlin lebt. Ren, damals 16, erzählt, das Ziel der Gruppe sei es zunächst gewesen, der Schulleitung neue Ideen und Vorschläge zur Reformation der Schulbildung zu unterbreiten.

Brief an Mao

Brief an Mao Ren Shimins Gruppe schreibt einen Brief an den Großen Vorsitzenden persönlich, in dem sie ihm ihre Vorstellungen darlegen. Und sie erhalten eine Antwort von Mao. In seinem Schreiben heißt es, die Rebellion der Roten Garden der Schule sei richtig und revolutionär, und er unterstütze sie. Unterdessen organisieren sich auch radikale Studenten, demonstrieren in den Straßen.

Mao aber weilt fernab im Süden. Sein Stellvertreter Liu Shaoqi regiert allein in Beijing. Der Vertreter der Parteilinie versucht die Ordnung wieder herzustellen, indem er die revolutionären Schüler und Studenten zum Arbeitseinsatz aufs Land schickt.

Auf der Heimreise nach Beijing schwimmt Mao Zedong durch den reißenden Yangzi. Die Botschaft wird in ganz China so verstanden, wie Mao es will: Seht her, ich bin noch da! Rechnet mit allem! Zwei Tage später, am 19.Juli, trifft Mao in der Hauptstadt ein. Sofort ruft er die Jugendlichen zurück in die Hauptstadt und kritisiert seinen Gegner Liu Shaoqi, den revolutionären Elan der Jugendlichen zu hemmen.

Am ersten August trifft sich das 11.Plenum des Zentralkomitees, auf dem eine 16-Punkte-Erklärung zur Kulturrevolution verabschiedet wird. Eine Woche später schreibt Mao selbst eine Wandzeitung mit dem Titel "Das Hauptquartier bombardieren!", in der er zum Kampf gegen eine "Handvoll oberster Parteimachthaber, die den kapitalistischen Weg gehen", aufruft.

Nun ist die Kampagne entfesselt. Immer mehr Rote Garden ziehen durch die Städte. Die Rotgardisten kämpften gegen die "alten Vier - gegen alte Ideen, alte Kultur, alte Bräuche und alte Gewohnheiten". Bibliotheken, Restaurants und Geschäfte werden verwüstet. Passanten auf der Straße mißhandelt. Die Roten Garden dringen in Häuser ein, plündern und zwingen die Bewohner, "bürgerliche Verfehlungen" zu gestehen.

Blutige Säuberungen stehen neben kuriosen Anweisungen zur Umwälzung des täglichen Lebens. So sollen die Chinesen nun stehen bleiben, wenn die Straßenampeln "Grün" zeigen und bei "Rot" gehen.

Bald befiehlt die "Gruppe Kulturrevolution" im ZK den Roten Garden, die Rebellion auf das ganze Land auszudehnen. Ren Shimin erinnert sich an die Zeit, als er mit seiner Garde über Land zog: "Ich war fast zwei Monate unterwegs. In Ürümqi, Harbin, Guangzhou und anderen Städten, an vielen Schulen und Universitäten haben wir mit den Leuten gesprochen. Überall wurden Vertreter der bürgerlichen Fraktion besucht. Menschen - ob unschuldig oder schuldig - wurden festgenommen und gedemütigt. Viele junge Leute hatten dann schon Zweifel an dem, was Mao vorhatte." Später spricht man von einer "verlorenen Generation".

Im März 1967 holt Mao schließlich zum Schlag gegen seinen Hauptgegner Liu Shaoqi aus, doch es dauerte noch zwei Jahre, bis Mao sein Ziel erreicht hat: Im Oktober 1968 wird Liu seiner Ämter enthoben und aus der Partei ausgeschlossen. Das ganze Jahr 1967 ist gekennzeichnet von Chaos: Im Januar werden die Roten Garden ermächtigt, Beamte aus ihren Stellungen zu entfernen und Machtpositionen zu übernehmen; die Volksbefreiungsarmee, zu jener Zeit die einzige noch intakte Macht im Staat, soll sie dabei unterstützen. Als sich die lokalen Militärherren jedoch mit Veteranen zusammenschließen, um ihre eigene Macht auszubauen, befiehlt Mao den Rotgardisten, "die kapitalistischen Elemente" aus der Armee zu entfernen.

Es kommt zum Bürgerkrieg: Armee gegen Rote Garden, Rote Garden gegen Rote Garden. Im Frühjahr 1968 eskalierten die Fraktionskämpfe in der Armee. Mao zieht die Notbremse und befiehlt der Volksbefreiungsarmee, die Roten Garden aufzulösen und die Jugendlichen aufs Land zu schicken. Sie werden zu "Unruhestiftern" erklärt.

Neue Verfassung

Der neunte Parteitag der Kommunistischen Partei am 1.April 1969 markiert schließlich zugleich den Höhe- und Endpunkt der Kulturrevolution: Die Kulturrevolution wird als Ereignis gefeiert, das das Antlitz Chinas verändert habe, eine neue Verfassung tritt an die Stelle der alten von 1956. Verteidigungsminister Lin Biao wird zum "vertrauten Waffengefährten und Nachfolger des Genossen Mao" befördert.

Dann erklärt der Parteitag die Kulturrevolution für beendet. Dennoch gibt es weiter Ausschreitungen durch die Armee bis ins Jahr 1971, und auf dem Land geht die Kulturrevolution erst mit Maos Tod am 9.September 1976 zu Ende.

Große Faszination übte die Kulturrevolution auf die 68er Bewegung in den westlichen Staaten aus. Die Studenten erklärten sich mit den Revolutionären in China solidarisch und gründeten selbst Rote Garden. Intellektuelle zeigten sich begeistert von der vermeintlich egalitären chinesischen Gesellschaft, die aus der Kulturrevolution hervorgegangen war. Kein Wort über Verschleppungen, öffentliche Demütigungen oder die ungezählten Toten. Den Chinesen stellte sich die Situation anders dar. Ren Shimin zum Beispiel sieht Mao als einzigen Nutznießer der Kulturrevolution. "Für die 800 Millionen Chinesen aber war die Kulturrevolution eine einzige Katastrophe."

 
 
 

  © 1996 Werner Pluta, Berliner Zeitung; Mail: , Web: http://www.wpluta.de; 04/99 wp