Faszination China

Ein ungewöhnlicher Bildband von Alexander Paul Englert und Yang Lian

 
 
  Das Land am anderen Ende der Welt übt eine große Faszination aus. Bücher, Ausstellungen, Filme zum Thema finden großen Anklang. Die fernöstliche Weisheit, die Geographie, die zivilisatorischen Errungenschaften oder die jüngere politische Geschichte des Landes - jeder Aspekt interessiert und wird zum Gegenstand von mehrteiligen Filmberichten oder Spielfilmepen, dicken Romanen oder aufwendigen Bildbänden.

Sehr unprätentios hingegen ist der Band "China Daily". Kein Hochglanzbildband über die Kulturschätze Chinas. Keine Farbphotos von der Verbotenen Stadt oder der Großen Mauer. Keine spektakulären Bilder von Aufmärschen der Volksbefreiungsarmee oder stolz präsentierten Ergebnissen des jüngsten Wirtschaftswachstums. Statt dessen präsentiert Photograph Alexander Paul Englert Schwarzweißbilder mit Alltagsszenen aus Südchina, gedruckt auf Karton, gebunden in der Jahrhunderte alten Tradition chinesischer Buchbindekunst mit Stoffbändern.

Englerts Blick bleibt nicht an den Vorzeigeobjekten des modernen China hängen, sondern wandert hinter die Kulissen von Kultur und sozialistischem Aufbau. Beide bilden eine Folie - die Kinder, die mit ihren Musikinstrumenten gerade von einer Veranstaltung kommen, die Frau, die sich mit zusammengelegten Händen vor dem meditierenden Buddha photographieren läßt - werden aber selbst nicht Gegenstand der Bilder. Der Blick des Photographen schweift in die Nebenstraßen und kleinen Gassen, gilt dem Alltagsleben jenseits des Wirtschaftswunders der Sonderwirtschaftszonen. Poetisch geraten seine Bilder und auf den zweiten Blick sehr nachdenklich. Nicht nur durch Kontraste: ein japanische Mittelklassewagen zwischen Straßenhändlern und Fahrradfahrern, eine alte Frau sitzt vor einem Geschäft mit modernen Stereoboxen und gibt einem Säugling die Flasche. Es liegt etwas in den Gesichtern, die Englert ausgewählt hat. Etwas wie Desinteresse am eigenen Los, "ein Ausdruck der Resignation, des Sich-nicht-Einmischen oder Engagieren-Wollens", wie Gisela Mahlmann, Chinakorrespondentin des ZDF, in ihrem Vorwort schreibt.

Den Bildern stellt der chinesische Dichter Yang Lian seine Gedichte gegenüber. Yang lebt seit 1989 im Exil, zur Zeit in Deutschland, nachdem er durch Zufall der Niederschlagung der Demokratiebewegung entkam. Der aktiv an den Protesten beteiligte Dichter weilte an jenem Tag in Australien.

In seinen Gedichten reflektiert er sein Exil und die politische Situation in seiner Heimat. "Eine Kette in den Fluß geworfener Schädel türmt sich zum Heute/ Eine Hand wird so lange von einem Vogel widerlegt, bis es ihr die Sprache verschlägt." So wie den Menschen auf Englerts Photos.

Englert und Yang entlarven das Bild, das die chinesische Regierung von ihrem Land zeichnet. Ein strahlendes, optimistisches Bild, in dem Schattenseiten ebenso wenig Platz haben wie das traditionelle China, das dem Betrachter auf Schritt und Tritt begegnet.

In einem Interview mit dem Bayrischen Rundfunk sagte Yang: "Wir müssen unsere eigene Sprache finden, unsere Gefühle, unsere Erfahrungen in Worte oder in Bilder fassen, als Kunst, als Dichtung, als etwas, das tiefer geht als das tägliche Leben." Doch vielleicht macht das, was tiefer geht als tägliche Leben, dieses erst verständlich. So wie "China Daily" am Ende mehr über China aussagt als eine gelehrte Studie oder ein Hochglanzbildband über die Kulturdenkmäler.

 
 
  China Daily. Photographien von Alexander Paul Englert. Gedichte von Yang Lian. Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 1995. 40 Seiten. 98 Mark.  
 
 

  © 1995 Werner Pluta; Mail: , Web: http://www.wpluta.de; 04/99 wp