Radio 100.000
Berlins erstes Hochschul-Radio zwischen Idealismus und Frust | ||
Radio 100.000, von uns auch selbstironisch oft als das Radio mit den vielen Nullen bezeichnet, war Berlins erstes Hochschul-Radio, das im Studentenstreik 1988/89 entstand. Der vorliegende Aufsatz, den ich zusammen mit Holger Schüßler verfaßte, erschien 1996 in dem Sammelband "Hochschul-Radios" (UVK-Medien), der von Claudia Fischer herausgegeben wurde. | ||
Wintersemester 1988/89: Wegen ihrer schlechten Lage traten die Studierenden der Berliner Unis, ebenso wie die westdeutscher Unis, in den Streik. Doch es fehlte ein Kommunikationsmedium für die Studierenden. So entstand die Idee für ein studentisches Radio. Einige Entschlossene an der Technischen Universität (TU) bauten einen Piratensender, mit dem sie vom Dach eines Institutshochhauses aus senden wollten. Der jedoch rauchte, noch bevor er ein einziges Megahertz von sich geben konnte, durch - und ein anderer Sendeplatz mußte her. Studierende, die bei dem alternativen Privatradio Radio 100 arbeiteten, vermittelten den Streikfunkenden ein viertelstündiges, tägliches Sendefenster, um die neuesten Entwicklungen an den Hochschulen bekannt zu geben. Der Name Radio 1000.000 rührt einerseits von der Anzahl der streikenden Studierenden und ist andererseits ein Tribut an den Sender, der uns das Fenster zum Äther öffnete.
Nach Ende des Streiks wurde die tägliche Viertelstunde gegen eine vierzehntägige Zwei-Stunden-Sendung monothematischen Inhalts eingetauscht. Die aus Bundesgeldern gegründete Kommission für Lehre und Studium (LSK) übernahm im Wintersemester 1989/90 die Finanzierung von Tutorenstellen und Sachmitteln. Ein Studio wurde zusammen mit dem Institut für Kommunikationswissenschaft der TU eingerichtet. Als im Februar 1991 das Aus für Radio 100 kam, mußte Radio 100.000 in den Offenen Kanal Berlin (OKB) ausweichen. Aus Frustration wurde der Name in "Heidis Kabel" geändert. Gesendet wurde dort alle zwei Wochen ein einstündiges Magazin; Sendemitschnitte wurden überarbeitet und sporadisch an die Fachschaftscafés verteilt. Ende 1992 wurde aus Heidis Kabel wieder Radio 100.000. Seit 1993 senden wir wöchentlich, das erste Tief war überwunden. Im Juli 1994 stellte die TU die Förderung in Form von Sachmitteln und Tutorenstellen ein. Irritation und Demotivation waren die Folge. Viel Arbeit, die zuvor von den Tutoren erledigt wurde, mußten nun auf alle Redaktionsmitglieder verteilt werden. Eine Aufgabenverteilung, die nicht besonders klappte. Anfang 1994, als absehbar war, daß die Finanzierung durch die TU eingestellt werden würde, gründeten wir einen Förderverein. Mit den Mitgliedsbeiträgen, so unser Kalkül, sollten die anfallenden Kosten für Bandmaterial, Reparaturen und unvermeidliche Anschaffungen gedeckt werden. Nach der Einstellung der finanziellen Förderung sahen viele schwarz für Radio 100.000. Doch es überlebte. Seit dem Wintersemester 1995/96 stehen wieder Tutorenstellen, jedoch keine Sachmittel zur Verfügung. Arbeitsweise Radio 100.000 funktioniert nach streng basisdemokratischen Regeln. D.h. es gibt keine redaktionsinterne Hierarchie, keine Verpflichtung zur Beitragsproduktion und schließlich freie Auswahl der Themen und der Art ihrer Verarbeitung. Diese Freiheit hat den entscheidenden Vorteil, daß - im Gegensatz zum offiziellen Dudelfunk - Radio 100.000-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter erheblich mehr Kreativität entwickeln. Kehrseite ist, daß auf Grund fehlender Verpflichtung Sendungen unterschiedlich mit Beiträgen bestückt und starken Qualitätsschwankungen unterworfen sind. Es besteht jedoch das Angebot durch selbstorganisierte Workshops die journalistischen und technischen Fähigkeiten zu verbessern. Motivationslöcher in der Arbeit sind unvermeidbar. Da bleiben Spannungen innerhalb der zudem sehr heterogenen Gruppe nicht aus. Auf den Redaktionssitzungen verbreitet sich zuzeiten eine Art "Stammtischatmosphäre" mit einem eingeschworenen Diskurs, was Neuankömmlinge, weibliche zumal, so manches Mal wieder den Rückzug antreten läßt - kein sehr fruchtbares Arbeitsklima. Weil einige Redaktionsmitglieder sich im Ton schon mal vergriffen, andere hingegen sachliche Kritik als persönliche Angriffe werteten, wird negative Kritik oft nicht geäußert. Einige sind daraufhin dazu übergegangen, untereinander ihre Beiträge zu besprechen. Ein anderer Aspekt des andauernden Radio 100.000-Frustes ist die "Unhörbarkeit" im OKB. Drei entscheidende Nachteile des Konzeptes Offener Kanal: Der OKB ist ein Kabelmedium, erreicht also nur ein kleines Publikum. Er ist für alle Interssierten offen, d.h. es gibt kein einheitliches, durchhörbares Programm. Das sieht in der Regel so aus: Vor Radio 100.000 gibt's eine Country-Sendung, danach eine Stunde mit Hardcore-Punk. Und es gibt keine festen Sendeplätze, so daß eine Art Wiedererkennungswert - "Heute ist Donnerstang, es ist 21 Uhr, also Zeit für Radio 100.000." - nicht gegeben ist. Was also tun gegen Dauerfrust, Lustlosigkeit und zunehmenden Fraktionismus? Im Herbst 1994, als einige schon das Ende von Radio 100.000 heraufdämmern sahen, hatte jemand die rettende Idee: Ein Grund für die schlechte Stimmung war fehlendes Zusammengehörigkeitsgefühl. Wie wäre es also mit einer Sendung pro Monat, der ein einziges Thema - im Gegensatz zu den üblichen Magazinsendungen - zu Grunde liegt und für die Beiträge möglichst in Gruppenarbeit angefertigt werden? Tatsächlich waren diese monothematischen Sendungen im letzten Jahr mit Abstand die besten Sendungen. Alle haben sich geradezu darum gerissen, Beiträge dafür zu produzieren. Der Wortanteil dieser Sendungen liegt meist weit über 50%. Eine Quote, die wir sonst leider nicht immer erfüllen können. Allerdings liegt in der "anarchischen" Herangehensweise ans Radiomachen auch unsere Stärke. Wegen der freien Wahl der Themen und der Verarbeitungsweise sind die Beiträge häufig unkonventioneller als im kommerziellen Radio. Eine Montage aus O-Tönen, einem Gedicht und Motorengeräusche über eine Autodesignaustellung? Ein hörspielartiges Kochstudio? Eine Soundcollage über eine Untergrundbahnfahrt durch Berlin oder über eine Butterfahrt? Kein Problem für Radio 100.000! Durch konsequente Ausnutzung aller Möglichkeiten des Hörfunks wollen wir dem Medium eine Attraktivität erhalten bzw. wiedergeben, die heutzutage mehr und mehr verflacht. Der Kreativität sind höchstens Grenzen gesetzt durch die eigenen Fähigkeiten beim Produzieren. Doch da stehen die Erfahreneren hilfreich zur Seite. Fraktionismus Durch die Redaktion läuft eine Spaltung. Kein Graben, so ideologisch ist die Auseinandersetzung nicht, aber es existieren zwei Fraktionen. Man könnte sie ungefähr so charakterisieren: Für die einen ist Radio 100.000 ein Sprungbrett, für die anderen eine Spielwiese. Die "Spielwiesen-Fraktion" betrachtet das Radio als eine Möglichkeit, ihren audiophilen Spieltrieb zu befriedigen - und das ist keine Abwertung. Ihnen geht es um das Ausprobieren, was im Medium Radio alles möglich ist. Die experimentelle Fraktion also. Ihren Anhängerinnen und Anhängern ist die Idee, nach der Uni als Journalisten zu arbeiten, fremd. Diejenigen, die das Radio als Sprungbrett betrachten, wollen in erster Linie ihre journalistischen Fähigkeiten schulen und gehen deshalb mit einem ganz anderen Anspruch an die Sache heran. Sie produzieren Beiträge so, daß sie diese zumindest als Demoband verwenden oder gar an professionelle Stationen verkaufen können. Die Beiträge der zweiten Fraktion sind zwar oft besser recherchiert, leiden dafür aber häufig unter der mangelnden Kreativität des Dudelfunkformates - ganz im Gegensatz zu den Experimentiererinnen und Experimentierern. Dieser Fraktionismus ist, darauf sei noch einmal hingewiesen, keine tiefe Spaltung. Die Grenzen sind eher fließend; kaum einer, der vehement und ideologisch seine Meinung vertritt. Nichtsdestoweniger gibt es diese beiden verschiedenen Auffassungen und oft genug entstehen aus ihrer Existenz Diskussionen in der Redaktion. Hören und Gehörtwerden Das wohl größte Problem von Radio 100.000. Wie bereits erwähnt, ist es schwierig, Hörerinnen und Hörer zu gewinnen. Der OKB sendet im Kabel, eine regelmäßige Programmstruktur gibt es nicht. Noch sind zu wenige Haushalte verkabelt, um uns überhaupt empfangen zu können. Der größte Teil der Radio 100.000-Redaktion kann die eigenen Sendungen nicht hören. Insofern liegen auch kaum Erfahrungen mit Publikumsreaktionen vor. Der Witz vom Hörer, dem legendären, der einmal in einer Sendung angerufen haben soll, macht die Runde. Solche bitteren Witze treffen die Stimmung in der Redaktion recht gut: "Warum soll ich einen Beitrag machen? Schlimm genug, daß ich kein Geld dafür bekomme, aber es hört ihn nicht mal jemand." Kein Wunder also, daß Radio 100.000 dauernd auf der Suche ist nach einer terrestrischen Sendemöglichkeit. Neue Sendemöglichkeiten Da es inzwischen gelungen ist, durch Berichte in der Berliner Presse- und Radiolandschaft, das erste Studentenradio Berlins bekannt zu machen, haben sich inzwischen zwei Sendemöglichkeiten ergeben, die jedoch beide ihre Schwierigkeiten in sich bergen. Diese Schwierigkeiten ergeben sich auch aus der Existenz der genannten Fraktionen. Die eine Möglichkeit ist die Mitgliedschaft im Landesverband freier Radios (LFR). Eine Gruppe aus mehreren freien Radios hat sich zusammengetan, um über Lobbyarbeit eine eigene Frequenz für freie Radios in Berlin zu bekommen. Als ersten Schritt hat der LFR vom OKB einen täglichen Drei-Stunden-Sendeblock in Aussicht gestellt bekommen - ein für den OKB ungewöhnliches Zugeständnis. Radio 100.000 plant dafür eine einstündige Sendung jede Woche, die frei nach unseren Vorstellungen gestaltet wird. Wir hoffen, dort ein interessiertes Publikum zu gewinnen, da unter diesen Bedingungen einige der oben genannten Unzulänglichkeiten des OKB wegfallen. So werden wir dort einen festen Sendeplatz belegen und ein konstantes Sendeumfeld genießen. Eine Möglichkeit, terrestrisch zu senden, gibt es im Berliner Hochschulradio, dem uniRadio Berlin-Brandenburg, das im Januar 1996 auf Sendung gegangen ist. Die Idee, das uniRadio Berlin-Brandenburg, zu gründen, kam von der Pressestelle der Freien Universität Berlin (FU). Nach langem Hin und Her mit der Landesmedienanstalt wurde ein einstündiges Fenster, sieben Tage in der Woche, für das uniRadio geschaffen. Als ältestes Hochschulradio Berlins beanspruchte Radio 100.000 natürlich auch dort einen Sendeplatz, was - aus unserer Geschichte heraus - bei den Initiatoren nicht gerade auf Begeisterung stieß. Das Wort vom "Chaotenradio" machte die Runde. Nach zähen Verhandlungen kam man schließlich zu dem Kompromiß, daß jeden zweiten Samstag ein Sendeplatz für ein studentisches Magazin zur Verfügung gestellt wird. Dieses gestalten Mitglieder von Radio 100.000 und andere Studierende, jedoch nicht unter unserem Namen. Angesichts der Tatsache, daß das die einzige Chance war, über Antenne zu senden, stimmten wir zähneknirschend zu. Inhaltliches Leitmotiv dieses Magazins namens RX5 (Radio eXperiment der 5. Dimension) ist die Wechselwirkung von studentischem Leben und Urbanität. Radio soll als Hör- und somit Klangmedium neu entdeckt werden. Doch es gibt auch eine Kehrseite: Denn während beim LFR auch weiterhin die Spielwiese bestehen bleibt, bedeutet das uniRadio einen höheren Qualitätsanspruch. Plötzlich ist nicht mehr alles möglich. Die Einführung einer Hierarchie und einer vorherigen Qualitätskontrolle ist ebenso Bedingung des uniRadio, wie die Tatsache, daß Neuankömmlinge nicht mehr nach zwei Monaten moderieren oder in der ersten Woche schon Beiträge senden können. Ein Frosch, den die Vertreterinnen und Vertreter des basisdemokratischen Modells gar nicht gern schlucken. Deshalb gibt es weiterhin Sendungen im OKB, in denen die Kritikerinnen und Kritiker dieses Kompromisses weiterhin ihre Ideen verwirklichen. Durch unser Engagement beim uniRadio teilte sich die Redaktion in Radio 100.000 und RX5, da wir auf großen Andrang hofften. Der blieb jedoch sowohl bei RX5 als auch bei uniRadio selbst größtenteils aus. Heute, nach etwa einem halben Jahr, denken wir wieder über eine Zusammenlegung nach, da die Teilung mehr Kräfte absorbierte als eine Schärfe der Sendeprofile erbrachte. Der Verein Nachdem die Finanzierung durch die LSK im Juli 1994 auslief und damit auch die Tutorenstellen, gründeten wir den Förderverein "Radio 100.000 e.V.", der die Gemeinnützigkeit anstrebt. Einerseits soll die Finanzierung durch Mitgliedsbeiträge und Spenden gewährleistet werden, andererseits das Radio einen formalen Rahmen bekommen. Die Beiträge betragen 30 DM pro Semester, was sich als ausreichend herausstellte, um die laufenden Kosten für Material und Studiowartung zu bewältigen. In der Praxis bewahrheitete sich allerdings schnell eine vorher geäußerte Befürchtung: Die Rdaktion teilte in Mitglieder, die Radio machen, und Mitglieder, die die leidige Organisation erledigen. Die vereinbarte Rotation in der Übernahme unangenehmer Pflichten blieb aus. Energieprobleme In den letzten Jahren wurde bei Radio 100.000 viel Energie absorbiert durch die organisatorische Arbeit im Verein, für das uniRadio und im LFR, und das ausgerechnet zu einer Zeit, da die Existenz von Radio 100.000 sowieso auf dem Spiel stand. Energie, die bei der Produktion der Sendungen fehlte. Das war umso mehr ein Problem, als die Aufgaben sehr ungleich verteilt waren: Während ein Teil der Redaktionsmitglieder vor lauter Gremienarbeit kaum noch dazu kam, Beiträge zu produzieren, erschöpfte sich der Einsatz anderer in der gelegentlichen Teilnahme an der Redaktionssitzung. In organisatorischer Hinsicht zeichnet sich mit der Einstellung von zwei Tutoren eine Entspannung ab, die Finanzierungsfrage dagegen bleibt offen. Hier wird der Verein für das Nötigste sorgen müssen. Insgesamt befindet sich Radio 100.000 nach einer Phase der Ungewißheit und Depression im Aufwind, was hauptsächlich dem Engagement und der Initiative der Studierenden zu verdanken ist, da die Universitäten außer ideeller Unterstützung lange Zeit kaum an diesem Projekt interessiert waren. Allerdings bedurfte es der Perspektive auf eine Verbesserung der Situation, um die Gruppe vor dem Zerfall zu bewahren. |
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© 1996 Werner Pluta, Holger Schüßler, UVK-Medien; Mail: , Web: http://www.wpluta.de; 04/99 wp |